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Alexander Böttcher, Rassismus, MiGAZIN, Sprache, Integration
Alexander Böttcher © Foto: privat, Zeichnung: MiGAZIN

Contrapunto

„Der Arme! Er spricht nur Spanisch und Französisch!“

„Der Arme! Er spricht nur Spanisch und Französisch!“ äußerte eine andere Mutter an meinem ersten Tag im deutschen Kindergarten. So erzählte es mir meine Mutter. Ich selbst habe keine Erinnerung mehr an dieses Geschehnis.

Von Donnerstag, 14.09.2023, 16:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 15.09.2023, 13:30 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Als Kind argentinischer Immigranten sprach ich zu Hause Spanisch. Alles andere wäre merkwürdig. Wir sprechen bis heute Spanisch miteinander. Mit der Zeit entsteht – das ist sicherlich eine Erfahrung, die viele Familien mit Migrationsgeschichte teilen – hin und wieder ein Misch-Masch der Sprachen. Der Grund, dass ich auch noch Französisch sprach, lag daran, dass ich aus einer Grenzregion zu Frankreich stamme und zuvor für ein halbes Jahr auf einen französischen Kindergarten gegangen war.

Ich empfinde Belustigung bei der Vorstellung wie eine Mutter ihr mitleidiges und zugleich hartes Urteil über einen dreijährigen Jungen zog. Offensichtlich den Widerspruch in ihrer Aussage, dass ein Kleinkind „nur“ zwei Sprachen könne, nicht erkennend. Es lässt sich aber gleichzeitig auch eine Erwartungshaltung dieser Mutter an das Kind, welches in den Kindergarten kommt, herauslesen.

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Die Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin beschrieb bereits Anfang der 1990er Jahre in ihrem Werk „Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule“ das Phänomen, dass Schulen in Deutschland eine sehr starke monolinguale Prägung erfahren (haben). Damit ist gemeint, dass die Einsprachigkeit als unhinterfragtes Prinzip das pädagogische Handeln und die Orientierung der Institution Schule prägt. Zugleich sind die Lebensrealitäten von sehr vielen Kindern und Jugendlichen durch Bezüge zu vielen Orten dieser Welt und durch Mehrsprachigkeit als (langweilige) Normalität geprägt. Das System Schule wusste und weiß in vielen Punkten sicherlich auch dreißig Jahren nach Erscheinen von Gogolins Werk nicht mit dieser Realität umzugehen. Diese Beschreibung lässt sich in vielen Punkten auch auf Kindertagesstätten und Kindergärten übertragen. Der „monolinguale Habitus“ scheint eine generelle Ausrichtung unseres Bildungssystems zu sein und er spiegelt sich auch in den Erwartungshaltungen mancher Eltern wider. Laut Statistischem Bundesamt sprechen über 20 % der Kinder und Jugendlichen bis 14 Jahren (oder in absoluten Zahlen mehr als 800.000) eine andere Sprache als vorrangig Deutsch. Das Verkennen der Lebensrealität so vieler Kinder und Jugendlicher könnte aus pädagogischer Perspektive vielleicht ein Problem sein.

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„Ich sprach zwar zwei Sprachen, aber offensichtlich die falschen.“

Die nicht enden wollenden Diskussionen um eine Deutschpflicht auf deutschen Schulhöfen deutscher Schulen sind wohl vielen Menschen vertraut. Zugleich frage ich mich: Wie kommt es überhaupt erst dazu, dass eine andere Mutter einen kleinen zweisprachigen Jungen bemitleidet und gleichzeitig damit herabsetzt? Ich sprach zwar zwei Sprachen, aber offensichtlich die falschen. Die Erzieherin muss über Vorstellungen der Norm einer richtigen Sprache verfügt haben.

Lebhafte Erinnerungen besitze ich über abwertende Blicke anderer Menschen in der Öffentlichkeit. Zum Beispiel beim Warten an der Supermarktkasse, wenn wir eine andere Sprache als Deutsch, also Nicht-Deutsch, sprachen. Der Blick kommunizierte: „Ihr verhaltet euch hier falsch!“. Oder wenn ich als Erwachsener mit lateinamerikanischen Freunden durch einen Park des „weltoffenen Berlins“ Spanisch sprechend ging und wir angeschrien wurden, hier gefälligst „Deutsch zu sprechen!“. Die subtilen Blicke und der klar zu erkennende Schrei kommunizierten: „Ihr verhaltet euch nicht im Sinne der Norm.“ Es dauerte viele Jahre, bis ich dieses Unbehagen, wenn nicht sogar eine Scham in jüngeren Lebensjahren, in der Öffentlichkeit Nicht-Deutsch zu sprechen, ablegen konnte. Es scheint somit eine Norm vorzuliegen, die über das Bildungssystem hinausgeht und die Gesamtgesellschaft betrifft.

„Mehrsprachigkeit erzeugt Ambivalenzen. Die Norm der Einsprachigkeit suggeriert uns, es gebe Eindeutigkeiten in der Welt.“

Das Phänomen der einsprachigen Orientierung ist sicherlich nicht allein auf Deutschland begrenzt und vollzieht sich in vielen Ländern. Dennoch gibt es sehr viele Länder, die ein mehrsprachiges Verständnis aufweisen, wie zum Beispiel Luxemburg, Mexiko mit Spanisch und 62 anerkannten indigenen Nationalsprachen oder Indien mit 23 anerkannten Amtssprachen.

Der Einsprachigkeit liegt ein tieferliegendes Phänomen zugrunde. Denn es hängt eng mit der Gründung moderner Nationalstaaten nach europäischem Vorbild zusammen. So beschreibt der Philosoph Zygmunt Bauman in seinem Werk Moderne und Ambivalenz den Prozess der Herausbildung moderner Nationalstaaten als den Prozess und Versuch des Schaffens von Eindeutigkeiten und des Versuchs der Beseitigung, bis hin zur vielfach dokumentierten Vernichtung allen dessen, was eine Ambivalenz erzeugt. Mehrsprachigkeit erzeugt Ambivalenzen. Die Norm der Einsprachigkeit suggeriert uns, es gebe Eindeutigkeiten in der Welt.

Einen Hinweis darauf, wie tief das Denken in Eindeutigkeiten in unser Verständnis der Weltordnung eingeschrieben ist, sehen wir auch gegenwärtig an vielfachen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und ihren populistische Antworten der Eindeutigkeit (z.B. im Hinblick auf die Staatsbürgerschaft, die Sprache, das Geschlecht oder die Religion).

Wenn uns an einer freien Gesellschaft mit ihrer Möglichkeit der Entfaltung von Menschen und ihren Neigungen gelegen ist, bedeutet dies nicht auch gerade eine VerunEINdeutigung der Welt? Bedarf es nicht auch des kritischen Umgangs mit künstlich erzeugten Normen der EINsprachgikeit? Diese Feststellung stellt sicherlich unsere Gesellschaft und ihr Bildungssystem vor Herausforderungen, welche wiederum den Umfang dieses Beitrags bei weitem sprengen würden. Aber vielleicht kann eine Haltung helfen, die die Veruneindeutigung der Welt, mit all ihren vorkommenden Ambivalenzen, als eine Form gesellschaftlicher und globaler Befriedung versteht und die Vielfalt an Perspektiven als Chance zur Lösung uneindeutiger Probleme versteht.

Noch eine Pointe zum Schluss: Obwohl ich als junges Kind nur die falschen Sprachen beherrschte, beherrsche ich mittlerweile die deutsche Sprache ganz gut. Nicht nur das, es sind sogar noch andere (aber vielleicht falsche) dazugekommen… Meinung

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  1. Levent Öztürk sagt:

    Kinder, die in Deutschland nur spanisch, französisch, englisch oder auch nur russisch bzw. polnisch sprechen gelten als Personen mit bereichertem Sprach-Schatz. Kinder, die in Deutschland nur türkisch oder arabisch sprechen, gelten als nicht integriert.