„Ich möchte, dass der Krieg vorbei ist“
Holocaust-Überlebender Leonid Kamenskij ist aus der Ukraine geflohen
Leonid Kamenskij hat in einem Seniorenheim in Hannover Zuflucht gefunden. Eigentlich wollte er seine Heimat in der Ukraine nicht verlassen. Krieg, Verfolgung und Todesangst hat der Sohn eines Juden schon in seiner Kindheit erlebt.
Von Karen Miether Mittwoch, 23.08.2023, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 23.08.2023, 9:36 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Mit geradem Rücken sitzt Leonid Kamenskij im Sessel seines Zimmers in einem Seniorenheim in Hannover. Ein Sofa für die Gäste, ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett, der Fernseher – die kleine Wohnung ist sparsam eingerichtet. Wenn der schlanke Mann dort Persönliches verwahrt, dann hinter den Türen des Einbauschrankes. Kamenskij ist im Mai vergangenen Jahres aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. „Ich war in einem Schockzustand beim Gedanken, die Heimat zu verlassen“, sagt er leise.
60 Jahre lang hat er mit seiner Frau zusammen in Mykolajiw gelebt, bis sie vor acht Jahren starb, übersetzt Tatjana Teichler, was er auf Ukrainisch erzählt. Sein Sohn floh schon zu Kriegsbeginn nach Deutschland, auch beide Enkel leben inzwischen hier. „Doch ich wollte nicht mitkommen“, sagt Kamenskij. Dann las er, dass der Stadt das gleiche Schicksal drohen könnte wie Mariupol, das zu der Zeit wie kaum ein anderer Ort von Leiden und Zerstörung des russischen Angriffskrieges betroffen war. „Ich habe in zwei Tagen alles gepackt und bin mit Bussen über Moldawien nach Deutschland.“
Leonid Kamenskij wird in einigen Tagen 89, so steht es in einer nachträglich ausgestellten Geburtsurkunde. „Eigentlich werde ich schon 90“, fügt er an. Seine Papiere gingen verloren, da war er noch ein Kind. Seine Mutter hatte sie vergraben, um sich und den Jungen zu schützen. Sie sei in der kommunistischen Partei gewesen, sein Vater Jude, erläutert er. 1941 überfiel das nationalsozialistische Deutschland die Ukraine. Seine Mutter sei mit ihm vor den deutschen Besatzern geflohen, viele Hunderte Kilometer weit und größtenteils zu Fuß.
„Da ist mir schlecht geworden.“
Als kleiner Junge habe er Bombenangriffe erlebt, Tote an Straßenrändern gesehen und in eine Grube mit Menschenleichen geblickt. „Da ist mir schlecht geworden“, sagt er und Übersetzerin Teichler fügt an, was er beschreibt: „Besonders ist ihm eine Frau mit blauem Kleid in Erinnerung geblieben.“ Mehr als 1,5 Millionen Jüdinnen und Juden wurden in der Ukraine Opfer des Holocaust.
Das „Hilfsnetzwerk für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine“ kümmert sich seit Beginn des russischen Angriffskrieges um Menschen, die wie Kamenskij den NS-Terror überlebt haben. Mehr als 50 Gedenkstätten, Stiftungen und Erinnerungsorte haben sich angeschlossen, darunter auch die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, die Gedenkstätten Bergen-Belsen und Esterwegen oder in Bremen der Denkort Bunker Valentin. Mit Spendengeldern unterstützt das Netzwerk vor allem diejenigen, die in der Ukraine geblieben sind, wie Koordinatorin Ragna Vogel erläutert. Es verteilt Hilfspakete oder vermittelt Patenschaften.
„Ich wurde in der Nachbarschaft versteckt.“
Doch während die Not auch angesichts von Katastrophen wie der Zerstörung des Kachowka-Staudamms größer werde, nehme die Spendenbereitschaft ab, beklagt Vogel vom Berliner Verein „Kontakte-Kontakty“, der zu den Gründern des Netzwerkes gehört. Knapp 40.000 Überlebende der NS-Verfolgung gebe es Schätzungen zufolge noch in der Ukraine, darunter neben Juden auch Zwangsarbeiter und politisch Verfolgte. Trotz des Krieges würden die wenigsten von ihnen das Land verlassen. Den Schritt nähmen vor allem diejenigen auf sich, deren Familien bereits in Deutschland lebten. „Wir haben hier Kontakte zu einer Handvoll.“
Leonid Kamenskij betont, wie dankbar er sei, dass Deutschland ihn aufgenommen habe. Er erinnert sich aber gleichzeitig an die Angst vor den deutschen Besatzern in seiner Kindheit. Der Schrecken endete auch dann nicht, als seine Mutter und er Mykolajiw erreicht hatten. Sein Großvater sei gegen den jüdischen Schwiegersohn gewesen. Auch Nachbarn hätten „Druck gemacht“, sagt er. Mutter und Sohn flohen erneut in ein Nachbardorf und kehrten doch wieder zurück. Sie hätten sich schließlich trennen müssen, um zu überleben: „Ich wurde in der Nachbarschaft versteckt“, sagt der 89-Jährige. Sein Vater kam im Krieg um.
„Ich will schon gerne wieder nach Hause.“
Auch nach der Befreiung litt Leonid Kamenskij unter Ausgrenzung und Diskriminierung, wie er sagt. Doch baute er ein Leben auf, arbeitete im Schiffsbau und gründete eine Familie. Er berichtet von seiner Wohnung, die er zurückgelassen hat, vom selbst gebauten Gartenhäuschen und den vielen Pflanzen.
Auf seiner Fensterbank in Hannover setzt eine Orchidee einen Farbpunkt, an der Brüstung hängt ein Blumenkasten mit gelben Sommerblüten. „Ich will schon gerne wieder nach Hause“, sagt Kamenskij und faltet die Hände auf seinem Schoß. „Aber, ob ich dann wirklich die Kraft habe?“ (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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