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Unterschiedliche Behandlung von Flüchtlingen © MiGAZIN

„Geschichtsvergessen“

Unions-Geschäftsführer will Asyl-Recht abschaffen

Kein Recht auf Asyl, keine Sozialleistungen – stattdessen eine Institutsgarantie: Europa soll Schutzbedürftige bis zu einer Obergrenze selbst auswählen - mit einem Vorrecht für Menschen aus Nachbarländern. Das fordert Union-Geschäftsführer Thorsten Frei. Kritik kommt von Experten und aus der Politik.

Dienstag, 18.07.2023, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 18.07.2023, 14:12 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei (CDU), plädiert dafür, das Individualrecht auf Asyl in der Europäischen Union abzuschaffen. Stattdessen solle es künftig eine „Institutsgarantie“ geben, in deren Rahmen die EU jährlich ein Kontingent von 300.000 bis 400.000 Schutzbedürftigen direkt aus dem Ausland aufnehmen und auf die Mitgliedstaaten verteilen könnte, schreibt Frei in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Eine Antragstellung auf europäischem Boden wäre so nicht mehr möglich und der Bezug von Sozialleistungen „umfassend ausgeschlossen“.

Die bisherige Praxis in Europa, die auf dem individuellen Asylrecht basiere, sei „zutiefst inhuman“ und gefährde die Gesellschaften, begründet Frei seine Forderung. Theoretisch hätten allein 35 Millionen Afghanen ein Recht, in Deutschland aufgenommen zu werden. „Damit möglichst wenig Menschen ihr Recht in Anspruch nehmen, knüpfen wir es an die Voraussetzung eines Antrages auf europäischem Boden.“ Diese Auswahl sei inhuman, da so das „Recht des Stärkeren“ gelte, argumentiert Frei: „Wer zu alt, zu schwach, zu arm oder zu krank ist, ist chancenlos.“

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Da es kaum gelinge, zwischen Schutzbedürftigen und Wirtschaftsmigranten zu unterscheiden, gefährde diese Politik auch die Gesellschaften Europas. „Selbst in den skandinavischen Staaten ist in den letzten Jahren nach überwiegender Auffassung der Bevölkerung die Belastungsgrenze überschritten worden“, schreibt Frei.

Antragsrecht für Nachbarn

Deshalb müsse Europa sein Asylrecht neu gründen. Aus dem Individualrecht auf Asyl müsse eine Institutsgarantie werden. „Mit einem solchen Asylrecht könnte Europa sich nicht nur an die Schwächsten wenden, sondern sehr genau dort helfen, wo Staaten durch große Flüchtlingsströme destabilisiert werden“, erläutert der CDU-Politiker. Zudem könnten Sicherheitsrisiken minimiert und Chancen für Integration maximiert werden; die illegale Migration wäre unterbunden, Rechtspopulisten der Boden entzogen.

Außerdem solle es ein Antragsrecht für Bürger der Staaten geben, die unmittelbare Nachbarn Europas sind, ergänzt Frei. Ihre Aufnahme würde auf das Kontingent angerechnet. „Käme es zu einem Massenzustrom wie derzeit im Falle der Ukraine, würde Europa für einen längeren Zeitraum kein Kontingent aus dem entfernteren Ausland mehr aufnehmen.“

Infobox: Das Individualrecht auf Asyl in Deutschland

Asylsuchende können sich in Deutschland auf das Grundgesetz berufen. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, heißt es in Artikel 16a. Es wird individuell bei jedem und jeder einzelnen Asylsuchenden geprüft, ob eine politische Verfolgung vorliegt. Um den Artikel zu ändern, wäre eine Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat nötig.

Manche Verfassungsrechtler diskutieren aber, ob das Recht auf Asyl und damit verbundene Leistungen des Staates dem Schutz der Menschenwürde (Artikel 1 des Grundgesetzes) zuzuordnen sei und damit der sogenannten Ewigkeitsklausel unterliege, nach der unter anderem Artikel 1 nicht geändert werden darf.

„In der Praxis hätte eine nationale Rechtsänderung nur symbolische Auswirkungen“, sagt Constantin Hruschka vom Münchner Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik unter Verweis auf völker- und europarechtliche Regeln. Der grundgesetzliche Schutz spiele in der Praxis seit Jahren nur noch eine untergeordnete Rolle.

So sind zum Beispiel die Regeln des Völkerrechts Bestandteil des deutschen Rechts. Das ist in Artikel 25 des Grundgesetzes festgelegt. Die Genfer Flüchtlingskonvention etwa schützt Menschen, die sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung oder wegen ihrer politischen Überzeugungen außerhalb ihres Heimatlandes befinden, vor der Ausweisung in ein Land, in dem Verfolgung droht.

Zudem müssen sich Behörden und Gerichte in Deutschland an Europarecht halten, selbst wenn dem das nationale Recht eventuell entgegenstünde. Das regelt Artikel 23 des Grundgesetzes. Die EU-Staaten haben sich über die EU-Verträge dazu verpflichtet, sich an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Charta der Grundrechte zu halten. Aus diesen ist auch ein Schutz für Geflüchtete abzuleiten.

Ungeheuerlicher Tabubruch

Außenministerin Annalena Baerbock hat sich irritiert zum Vorstoß aus der Spitze der Unionsfraktion für eine Abschaffung des Individualrechts auf Asyl geäußert. „Offensichtlich sind wir schon im Sommerloch“, antwortete die Grünen-Politikerin am Dienstag süffisant am Rande ihrer Sommertour in Bonn auf eine Journalistenfrage.

Freis Vorstoß erntet auch bei der Linkspartei und der SPD Kritik. Die fluchtpolitische Sprecherin der Linke im Bundestag, Clara Bünger, verweist auf die Entstehungsgeschichte der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) als eine direkte Folge aus dem Versagen der internationalen Staatengemeinschaft angesichts der Verbrechen im Nationalsozialismus und der Shoah. Die GFK sei eine Antwort auf Nazideutschland. Dass Frei nun fordert, „diese zivilisatorische Errungenschaft über Bord zu werfen, ist geschichtsvergessen und offenbart, wie weit seine Partei sich nach rechts bewegt hat“, kritisiert Bünger.

Als „realitätsfremd“ bezeichnet der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Dirk Wiese, Freis Vorschlag: „Institutslösung klingt geordnet, ist es aber ganz und gar nicht. Welcher vor Gewalt und Verfolgung Flüchtende verharrt schon, wo er ist und meldet sich ordentlich an?“ Zudem mache sich nicht ein Mensch weniger auf den Weg, der sich in einer Notlage befindet. „Wir müssen endlich wirksam und nachhaltig die Fluchtursachen bekämpfen, die Menschen aus ihrer Heimat vertreiben“, erklärt Wiese, der mehr Migrationsabkommen fordert. (epd/mig) Aktuell Panorama

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