Tunesien, Küste, Stadt, Meer, Flüchtlingspolitik, Afrika, Flucht, Migration
Küste Tunesiens © de.depositphotos.com

Schmutziger Deal

Tunesien macht Grenzen dicht für EU-Gelder

Immer mehr Geflüchtete kommen per Boot nach Italien - zunehmend aus Tunesien. Die EU-Kommission verhandelt mit dem Land über Grenzkontrollen und will dafür viel Geld zahlen. Derweil steht Tunesien in der Kritik: Folter und Aussetzung von Geflüchteten in der Wüste. Migrationsexperte deutet den Deal als Rechtsruck in der EU.

Montag, 17.07.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 17.07.2023, 17:44 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Angesichts steigender Zahlen von Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, haben die Europäische Union und Tunesien eine stärkere Zusammenarbeit beschlossen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Regierungschefs der Niederlande und Italiens sowie Tunesiens Präsident Kais Saied verkündeten am Sonntag in Tunis die Unterzeichnung einer entsprechenden Absichtserklärung. Damit kann die EU-Kommission für das wirtschaftlich schwer angeschlagene Land in Nordafrika Finanzhilfen in Höhe von bis zu 900 Millionen Euro auf den Weg bringen.

Vor gut einem Monat waren die EU-Politiker bereits zu Gesprächen in Tunesien, um den Deal auszuhandeln. Im Gegenzug für die Finanzhilfen soll Tunesien künftig stärker gegen Schlepper vorgehen und seine Grenzen dicht machen, um die Abfahrten von Menschen in Richtung Europa zu verhindern. Vor allem die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni drängte auf eine Vereinbarung, um die von Tunesien ablegenden Boote auf deren Weg nach Süditalien und damit in die Europäische Union früh zu stoppen.

___STEADY_PAYWALL___

„Wir haben ein gutes Paket. Jetzt ist es Zeit, es umzusetzen“, sagte von der Leyen mit Blick auf die Absichtserklärung. Saied sagte: „Wir sind fest entschlossen, sie schnellstmöglich umzusetzen.“ Er sprach beim Thema Migration von einer „unmenschlichen Situation“, die im Kollektiv gelöst werden müsse. Die EU-Kommission will etwa für Such- und Rettungsaktionen und die Rückführungen von Menschen gut 100 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Das entspricht der dreifachen Summe, mit der Brüssel Tunis dabei zuletzt im Durchschnitt jährlich unterstützte.

75.000 Bootsgeflüchtete

Tunesien ist eines der wichtigsten Transitländer für Menschen auf dem Weg nach Europa. Vor allem in Italien wird seit geraumer Zeit über die Ankunft Tausender Geflüchteter diskutiert. In diesem Jahr stiegen die Migrationszahlen über die Mittelmeerroute massiv. Allein bis Freitag zählte das Innenministerium in Rom mehr als 75.000 Bootsgeflüchtete, die seit Jahresbeginn an Italiens Küsten ankamen – im Vorjahreszeitraum waren es rund 31.900.

„Nach viel diplomatischer Arbeit haben wir ein sehr wichtiges Ziel erreicht“, sagte Meloni. Das Memorandum ermögliche eine „integrierte Bewältigung der Migrationskrise“. Sie hoffe zudem auf weitere ähnliche Abkommen mit anderen nordafrikanischen Ländern. Kommenden Sonntag sei in Rom auch eine Migrationskonferenz geplant, an der Saied sowie weitere Staats- und Regierungschefs des Mittelmeerraums teilnehmen sollen.

Rassismus in Tunesien

Die Absichtserklärung ist in den Verhandlungen ein wichtiger Schritt nach vorn. Bis das Geld an Tunis fließen kann, braucht es aber auch noch Einigung von anderer Seite: Ein Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Höhe von 1,9 Milliarden Dollar an Tunesien hängt in der Luft, weil Präsident Saied keine verbindliche Zusage zu den dafür verlangten Reformen machen will.

Saied hatte im Februar ein härteres Vorgehen gegen Migranten angekündigt und ihnen vorgeworfen, Gewalt und Kriminalität ins Land zu bringen. Seitdem nahmen Anfeindungen und rassistische Übergriffe zu. In der Küstenstadt Sfax kam es zu teils tödlichen Zusammenstößen zwischen Migranten und Anwohnern.

Foltervorwürfe gegen Tunesien

Kritiker werfen Saied vor, sich auf den Ausbau seiner Macht zu konzentrieren und nicht auf Lösungen für die schwere Wirtschaftskrise im Land. Nach Kritik der EU an seinem Machtausbau war das Verhältnis zuletzt angespannt. Saied schloss auch aus, sein Land zu einer Grenzpolizei für Europa werden zu lassen. Tunesiens Regierung sieht eine langfristige Ansiedlung von Migranten im Land zudem kritisch. Viele Tunesier fürchten, dass genau dies Ergebnis eines EU-Deals sein könnte.

Wie am Montag bekannt wurde, haben libysche Grenzschutzbeamte fast 200 Menschen aus der Wüste gerettet, nachdem diese mutmaßlich von Sicherheitskräften in Tunesien an der gemeinsamen Landesgrenze ausgesetzt wurden. Das teilte das libysche Innenministerium am Montag mit. Auch die Internationale Organisation für Migration (IOM) gab am Montag an, 191 gerettete Menschen versorgt zu haben. Den Angaben nach wurden die Menschen in das nahegelenge Grenzdorf Al-Assah im Norden Libyens gebracht. In einem vom Innenministerium veröffentlichten Video sagten zwei aus Nigeria stammende Männer, sie seien von Angehörigen des tunesischen Militärs geschlagen und mit anderen in ein Wüstengebiet gebracht worden. Ein anderer Mann sagte, das tunesische Militär habe ihnen die Pässe abgenommen und die Dokumente dann verbrannt. Er sei mit 35 anderen Menschen in ein Fahrzeug gesteckt worden und an die Grenze zu Libyen gebracht worden. Die Gruppe habe zwei Tage lang in der Wüste ausgeharrt.

Aussetzung von Kindern und Schwangeren

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warf tunesischen Sicherheitskräften vor, Hunderte Migranten und Asylbewerber kollektiv in Richtung der Grenze ausgewiesen zu haben. Darunter seien Kinder und schwangere Frauen. Sie seien in einer „abgelegenen, militarisierten Pufferzone“ mit wenig Essen und ohne medizinische Versorgung zurückgelassen worden. Sicherheitskräfte hätten die Mobiltelefone von fast allen Betroffenen zerstört. Zudem habe es Berichte von Gewalt und sexuellen Übergriffen gegeben. Laut der Nichtregierungsorganisation Tunesisches Forum für ökonomische und soziale Rechte (FTDES) sollen zwischen 500 und 700 Migranten von der tunesischen Küstenstadt Sfax aus ins Grenzgebiet zu Libyen gebracht worden sein.

In Italien weht derweil ein anderer Wind. Eines der wichtigsten Wahlversprechen der ultrarechten Meloni war, die vielen Mittelmeer-Migranten aus Nordafrika von den süditalienischen Küsten abzuhalten. Dass dieses Jahr aber mehr als 2022 ankamen, setzt sie unter Druck. Ihr liegt deswegen viel daran, Tunesien als Verbündeten für die neue europäische Asylpolitik zu gewinnen. Sie schlug immer wieder vor, Tunis – ähnlich wie das die EU 2016 mit der Türkei in einem Deal vereinbart hatte – dafür zu bezahlen, die Geflüchtetenboote konsequent am Ablegen Richtung Italien zu hindern.

Migrationsexperte: Deal zeigt Rechtsruck in EU

Das Migrationsabkommen ist nach Ansicht des Politikforschers David Kipp Ausdruck für einen „klaren Rechtsruck auf europäischer Ebene“. Es zeige, dass es Italien unter Regierungschefin Giorgia Meloni mit seiner strikten Anti-Migrations-Politik gelungen sei, seinen Kurs zu verstetigen und die Unterstützung der Europäischen Union dafür zu gewinnen, sagte der Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik dem „Evangelischen Pressedienst“.

Zwar werde in der Vereinbarung der EU mit Tunesien betont, dass sie auf der Achtung der Menschenrechte basiere, sagte Kipp. „Doch das ist natürlich extra vage gehalten.“ Das Ziel Europas sei in der Vereinbarung klar ersichtlich: Ankünfte aus Nordafrika nach Europa zu reduzieren, erklärt der Migrationsexperte.

Lob und Kritik aus Deutschland

Das Abkommen stößt auch in der Politik nicht auf Zustimmung. Der Grünen-Innenpolitiker Julian Pahlke nannte das geplante Abkommen am Montag „hochproblematisch“. Der Bundestagsabgeordnete warnte: „Wenn eine Fluchtroute geschlossen wird, werden Menschen auf noch lebensgefährlichere Routen ausweichen.“ Clara Bünger (Linke) forderte die Bundesregierung auf, sich gegen die Vereinbarung zu stellen. Es sei bekannt, dass Tunesien Asylsuchende in der Wüste ausgesetzt habe. Vor diesem Hintergrund sei es zynisch, das Land „zum nächsten Türsteher Europas“ zu machen.

„Das ist eine Win-Win-Situation“, sagte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai in der Sendung „Frühstart“ von RTL/ntv. Die Erfolge der EU bei der Bekämpfung irregulärer Migration seien bislang bescheiden gewesen, „von daher kommt so ein Abkommen sehr gelegen“. Der Unionsfraktion geht das geplante Abkommen noch nicht weit genug. Der innenpolitische Sprecher der Fraktion, Alexander Throm, sagte: „Die illegale Migration von Tunesien nach Europa nimmt massiv zu – daher ist es in unserem Interesse, wenn die Europäische Kommission hier eine engere Zusammenarbeit mit Tunesien sucht.“ Wichtig wäre es aber, dass das Land auch Migranten aus anderen Staaten, die über Tunesien nach Europa gekommen sind, zurücknimmt.

Bundesregierung steht hinter Abkommen

Die Bundesregierung steht aber hinter den Plänen, wie die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann am Montag in Berlin betonte. Sie sagte: „In der Tat hat dieses Abkommen, das die EU verhandelt hat und weiter verhandelt, die volle Unterstützung der Mitgliedstaaten und damit auch der Bundesregierung. Es ist ja auch beim Europäischen Rat Ende Juni so vereinbart worden.“

Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte: „Wichtig ist natürlich, dass bei allen Maßnahmen im Bereich Migration in Tunesien Menschenrechte und humanitäre Verpflichtungen eingehalten werden.“ Darauf werde Deutschland bei der Umsetzung der am Sonntag vereinbarten Absichtserklärung ganz besonders achten. Aktuelle Berichte über die Lage von Flüchtlingen in Tunesien und über den Umgang mit ihnen „besorgen uns sehr“, sagte der Sprecher mit Verweis auf die Verschleppung von Flüchtlingen in das libysch-tunesische Grenzgebiet. (dpa/epd/mig) Aktuell Politik

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)