Der Imam von Srebrenica
Schwerstes Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg
Nur wenige Jahre nach dem Massaker von Srebrenica an 8.372 Muslimen zieht ein junger muslimischer Geistlicher in die Stadt: Imam Damir Pestalic. Er spielt Tennis mit Serben, kämpft für das Gedenken an die Opfer und gegen Geschichtsvergessenheit.
Von Judith Kubitscheck Mittwoch, 12.07.2023, 21:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 12.07.2023, 15:25 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Damir Pestalic steht auf dem Friedhof des Memorial Centers Srebrenica. Vor einem Meer von tausenden weißen Grabstelen erklärt er einer Besuchergruppe, was hier an diesem Ort im Osten Bosniens geschah. Täglich ist der 46-jährige Hauptimam von Srebrenica mit dem konfrontiert, was als schwerstes Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gilt: Ab dem 11. Juli 1995 ermordeten serbische Soldaten in Srebrenica und Umgebung unter General Ratko Mladic in wenigen Tagen mehr als 8.300 muslimische Jugendliche und Männer.
Das Massaker wurde vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag und dem Internationalen Gerichtshof als Völkermord eingestuft. Das Dramatische: „Viele bosnische Muslime kamen nach Ausbruch des Bosnienkrieges nach Srebrenica, weil das Gebiet zur UN-Sicherheitszone erklärt wurde“, erklärt der Imam. Doch die niederländischen Blauhelmsoldaten waren nicht in der Lage, das Verbrechen zu verhindern, eine Nato-Luftunterstützung blieb aus.
„Heute gibt es keine bosniakische Familie in der Umgebung von Srebrenica, die in der Zeit von 1992 bis 1995 nur ein Familienmitglied verloren hat, es waren immer mehrere – oder alle“, sagt Zenaida Hodzic vom Archiv-Team des Srebrenica Memorial Centers, die selbst im Alter von sieben den Genozid überlebt hat. Das Museum des Memorial Centers erinnert an das Massaker. Es befindet sich neben dem Friedhof in einer ehemaligen Batteriefabrik im Nachbarort Srebrenicas, in Potocari – genau an dem Ort, an dem die Basis der UN-Blauhelme war, und wo Tausende nach dem Fall Srebrenicas vergeblich Schutz und Hilfe suchten.
„Kein klassischer Imam“
„Hier in Srebrenica kann man kein klassischer Imam sein, hier muss man anders und unkonventionell arbeiten“, sagt Pestalic. Bereits seit 20 Jahren wohnt er mit seiner Familie in Srebrenica: Er und seine Frau waren das erste junge muslimische Paar, das sich wieder traute, dorthin zu ziehen. Damals sah Srebrenica aus „wie die Kulisse in einem Horrorfilm“, erinnert er sich. „Es gab keine Straßenbeleuchtung, dafür aber viele Ruinen von Häusern, die im Krieg zerstört worden waren.“ Seine älteste Tochter Amina, die 2004 auf die Welt kam, war das erste muslimische Kind, das nach 1995 in Srebrenica geboren wurde.
In den heil gebliebenen Häusern der Bosniaken, die vor 1995 in der Stadt lebten, waren mittlerweile serbischstämmige Bosnier eingezogen – unter ihnen auch einige, die als Soldaten an dem Massaker beteiligt gewesen seien, sagt Pestalic. Für ihn war das nur schwer zu verkraften: „Man muss sich das nur vorstellen: Man versucht abends einzuschlafen und kann das nicht, weil man denkt: Diese und diese Person war auch dabei.“
Die „Mütter von Srebrenica“
Anfangs sei kein richtiges Gemeindeleben möglich gewesen, da es kaum muslimische Männer gegeben habe, die die wieder aufgebaute Moschee zum Freitagsgebet besuchen konnten. Besonders habe er sich um die „Mütter von Srebrenica“ gekümmert, erzählt der Imam: Witwen, die durch das Massaker ihre Familie verloren hatten. „Sie haben sich sehr dafür engagiert, dass das Memorial-Zentrum aufgebaut wurde, und durch ihre Zeugenaussagen dazu beigetragen, dass das UN-Tribunal das Verbrechen als Genozid einstufte.“
Der Chef des Hauptimams, der Mufti von Tuzla, Vahid Fazlovic, erklärt, er sei besonders stolz darauf, dass die Mütter und andere engste Familienangehörigen der Opfer „nie nach Rache gegriffen haben“. Dies liege auch daran, dass die Imame in den Moscheen immer dazu aufgerufen hätten, keine Vergeltung zu üben.
Begegnungen bauen Vorurteile ab
Heute hat die muslimische Gemeinde etwa 1.000 Mitglieder, vor dem Massaker waren es 20.000. Über die Jahre hätten immer mehr vertriebene ehemalige Einwohner von Srebrenica ihre Immobilien zurückbekommen, aber: „Das war für viele ein Kampf, wieder zu ihrem Eigentum zu kommen“, sagt Pestalic.
Jeden Morgen geht Pestalic in die Stadt und trinkt in einem serbischen Lokal einen Kaffee „mit denen, die mit mir gerne einen Kaffee trinken wollen.“ Er ist überzeugt, dass solche alltäglichen Begegnungen Vorurteile abbauen. Bewusst spielt er auch in der Nachbarstadt Zvornik Tennis, weil er den Sport mag, aber auch, um ins Gespräch zu kommen mit den anderen Spielern, die alle Serben seien. Seine jüngere Tochter Merjema trainiert bei „einer wunderbaren Serbin“ Karate – mit Erfolg: Das Karate-Team, zu dem seine Tochter ebenso wie ein serbisches Mädchen gehört, ist schon seit sechs Jahren am Stück Bosnien-Meister.
Genozid-Leugnung ohne Anklage
Am 11. Juli war der jährliche Gedenktag für das Massaker von Srebrenica. Auch dieses Jahr wurden wieder weitere sterbliche Überreste von Opfern bestattet, die durch DNA-Proben identifiziert werden konnten. Dadurch können Vermissten-Akten geschlossen werden.
Damir Pestalic wird dann wieder auf dem Friedhof sein, beten und sich dafür einsetzen, dass der Opfer gedacht, die Geschichte aufgearbeitet und an sie erinnert wird. Und das ist wichtig in einem Land, das seit 1995 aus zwei Landesteilen besteht: der Föderation Bosnien und Herzegowina und der Republika Srpska, in der auch Srebrenica liegt. Denn laut dem „Srebrenica Genozid-Leugnungs-Report“ des Memorial Centers von 2022 leugnet der bosnische Politiker serbischer Volkszugehörigkeit, Milorad Dodik, – seit 2022 Präsident der Republik Srpska – den Genozid. Zwar sei seit Juli 2021 das sogenannte „Inzko“-Gesetz in Kraft, das bei Leugnung des Genozids bis zu fünf Jahre Gefängnis vorsieht. Doch es sei bisher noch zu keiner Anklage gekommen. (epd/mig) Aktuell Ausland
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