Streit um Migrationspolitik

Rechtspopulisten europaweit auf dem Vormarsch

Länder wie Schweden oder Finnland galten einst als besonders liberal - inzwischen gibt es dort einen Rechtsruck. Droht dieses Schicksal nach dem Bruch der Regierung Rutte nun auch den Niederlanden? Hierzulande schauen Politiker ebenfalls mit bangem Blick auf kommende Wahlen.

Sonntag, 09.07.2023, 21:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 10.07.2023, 10:55 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

In Stockholm, Helsinki und Rom sitzen sie – direkt oder indirekt – bereits an den Schalthebeln der Macht: rechte und populistische Parteien. Nach dem Bruch der Vier-Parteien-Koalition von Ministerpräsident Mark Rutte könnte das auch den Niederlanden bald bevorstehen. Und in Deutschland sehen Meinungsumfragen die rechte AfD ebenfalls auf dem Vormarsch. Auffallend ist: Überall spielt die Migrationspolitik dabei eine große Rolle. Rutscht Europa politisch nach rechts?

Schweden

Bei der Parlamentswahl 2022 wurden die rechtspopulistischen Schwedendemokraten (SD) mit über 20 Prozent der Stimmen erstmals zweitstärkste Kraft hinter den abgelösten Sozialdemokraten. Die Partei hat Wurzeln in der Neonazi-Szene der 90er Jahre und wird von vielen Schwedinnen und Schweden äußerst kritisch gesehen. Dennoch entschied sich der Chef der konservativen Partei „Die Moderaten“, Ulf Kristersson, auf seinem Weg ins Amt des Regierungschefs zu einer engen Zusammenarbeit mit den SD. Die Rechten sitzen zwar nicht direkt in seiner konservativ-liberaler Koalition – die Minderheitsregierung ist aber auf ihre Unterstützung angewiesen.

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Die Regierungspolitik ist daher stark von den Wahlversprechen der SD gefärbt. Das betrifft vor allem die Migrationsfrage, aber auch die Klima-, Umwelt- und Sozialpolitik. Zudem hat Schweden ein großes Problem mit organisierter Bandenkriminalität. 2022 gab es fast 400 Schusswaffenvorfälle, 62 Menschen wurden dabei getötet, so viele wie noch nie in einem Jahr. Es geht in erster Linie um die Markthoheit im Drogengeschäft. Und immer wieder sind junge Einwanderer involviert.

Finnland

Rechtsruck auch in Helsinki: Seit Ende Juni regiert hier eine Vier-Parteien-Koalition unter der Führung des konservativen Ministerpräsidenten Petteri Orpo. Seine Nationale Sammlungspartei war bei der Wahl Anfang April stärkste Kraft vor der rechtspopulistischen Partei Die Finnen und den Sozialdemokraten seiner Vorgängerin Sanna Marin geworden. Anders als in Schweden sitzen die Rechten in Finnland nun mit in der Regierung. In Orpos Mitte-Rechts-Bündnis fielen der Finnen-Partei gleich mehrere Schlüsselressorts wie Finanzen, Wirtschaft, Inneres und Justiz sowie Gesundheit und Soziales zu.

Die Chefin der Finnen-Partei, Riikka Purra, wurde Finanzministerin und Vize-Regierungschefin. Sie kündigte einen „Paradigmenwechsel“ bei der Migration an. In der Zusammenarbeit mit Purras Partei knirschte es aber von Beginn an: Nach nur zehn Tagen im Amt musste der rechtspopulistische Wirtschaftsminister Vilhelm Junnila im Zuge eines Skandals um seine Kontakte in die rechtsextreme Szene und Scherze über Nazi-Symbole zurücktreten. Selbst Finnlands Präsident Sauli Niinistö, der sich eigentlich mit Kommentaren zurückhält, bezeichnete die Situation als peinlich für die Regierung.

Niederlande

Die nun zerbrochene Regierung war bereits die vierte in Folge unter Führung der rechtsliberalen VVD mit dem seit fast 13 Jahren regierenden Mark Rutte. Zu dieser Koalition hatten sich vier Parteien verschiedenster Ausrichtung in neun Monaten Koalitionsverhandlungen zusammengerauft. Doch bei vielen wichtigen Themen wurden kaum Entscheidungen getroffen. Einig waren sich alle, dass der Flüchtlingszuzug in das kleine und dicht bevölkerte Land begrenzt werden soll – die VVD aber pochte auf eine Beschränkung des Familiennachzugs, was den anderen Parteien zu weit ging.

Ob es bei einer Neuwahl zu einem Rechtsruck kommt, ist noch unklar. Das Kalkül von Rutte könnte auch sein, mit dem Reizthema Migration von der neuen Kraft auf der rechten Seite, der rechtspopulistischen Bauerbürgerbewegung BBB, Wähler zurückzugewinnen. Bei der Provinzialwahl im März wurde die BBB auf Anhieb stärkste Kraft. Bei einer Neuwahl wird ihr ein großer Erfolg vorhergesagt.

Italien

2022 kam Giorgia Meloni von der ultrarechten Partei Fratelli d’Italia an die Macht zusammen mit den kleineren Rechtspopulisten der Lega und der rechtskonservativen Forza Italia. Meloni konnte praktisch alle Unzufriedenen – Corona-Zweifler, EU-Kritiker, Ausländerfeinde, Russland-Freunde und Gegner von Waffenlieferungen an die Ukraine – auf sich vereinen. Ihre Rechts-Rechts-Mitte-Koalition regiert Italien seitdem relativ skandalfrei – zumindest gemessen an den Befürchtungen wegen Melonis Wurzeln in einer aus dem Faschismus hervorgegangenen Partei. International blieb Italien unter ihr ein verlässlicher Partner.

Just beim Thema Migration konnte sie ihr größtes Versprechen an die Wähler bislang nicht erfüllen – im Gegenteil: Statt die vielen Mittelmeermigranten aus Nordafrika von den süditalienischen Küsten abzuhalten, kamen in diesem Jahr bislang mehr als doppelt so viele Leute in Booten an wie im selben Vorjahreszeitraum. Meloni arbeitet fieberhaft an Deals mit der EU, europäischen Partnern und Ländern wie Tunesien und Libyen, um die Menschen vor der Überfahrt aufzuhalten. Wie erfolgreich sie dabei ist, dürfte große Auswirkungen auf die Dauer ihrer Regierung haben.

Frankreich

In Frankreich legte das rechtsnationale Rassemblement National von Marine Le Pen bei der Parlamentswahl vor gut einem Jahr kräftig zu und ist nun größte Oppositionsfraktion in der Nationalversammlung. Für das Mitte-Lager von Präsident Emmanuel Macron ist die rechte Partei inzwischen der gefürchtetste Gegner, der gestärkt aus den Rentenprotesten hervorgegangen ist und auch von den jüngsten Vorstadtkrawallen profitieren dürfte. Da Frankreich erst 2027 wieder wählt, ist aber offen, ob all das zu einem Rechtsruck führen wird.

Dass die Politik des Liberalen Macron sich bereits etwas nach rechts verschoben hat, hat damit zu tun, dass das Präsidentenlager bei der Parlamentswahl die absolute Mehrheit verloren hat. Als Partner für eine Regierungszusammenarbeit scheiden Le Pens Rechtsnationale und das Linksbündnis aus. Als einziger Partner mit Gewicht verbleiben die konservativen Républicains, deren rechter Flügel mit teils extremen Positionen auf dem Thema Migration herumreitet. Die Regierung versucht darauf einzugehen. Das aktuelle Ringen um ein neues Migrationsgesetz zeigt aber, dass ein gemeinsamer Kurs schwierig ist.

Deutschland

Seit Monaten sonnt sich die rechtspopulistische und vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall beobachtete AfD im Umfragehoch. Bundesweit liegt sie bei etwa 20 Prozent – und damit vor der Kanzlerpartei SPD. 2013 als Anti-Euro-Partei gestartet, wurde die AfD in der Flüchtlingskrise 2015/16 stark. Das Thema Migration ist bis heute zentral für sie und durch die stark gestiegenen Asylbewerberzahlen aktueller denn je. Der jüngste Sprung in den Zustimmungswerten wird aber auch als Folge des Streits in der Ampel-Koalition etwa über das Heizungsgesetz gewertet, das viele Menschen in Deutschland verunsichert.

Derweil feiert die AfD Erfolge in der Kommunalpolitik. Im Thüringer Landkreis Sonneberg wurde soeben erstmals ein AfD-Politiker Landrat, in Raguhn-Jeßnitz in Sachsen-Anhalt wurde ein AfD-Mann zum hauptamtlichen Bürgermeister gewählt. Mit großer Sorge blicken Union, SPD, Grüne und FDP auf die drei Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September kommenden Jahres. Aktuelle Umfragen sehen die AfD dort überall als stärkste Kraft. (dpa/mig) Leitartikel Panorama

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