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Schulweg (Symbolfoto) © 123rf.com

Regelschulen

Bildungsausschluss durch Inklusion: bevorzugt nach Herkunft

Zur Stellenbeschaffung an Regelschulen werden immer mehr Kinder zu Inklusionsfällen deklariert. „Monitor“ thematisiert das Problem und verkennt das Auswahlprinzip. Der Aufschrei bleibt aus.

Von Montag, 03.07.2023, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 03.07.2023, 17:13 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Ein Beitrag der ARD-Sendung „Monitor“ vom 19.1.2023 titelt: „Inklusion an Schulen: Wie Kinder ‚behindert‘ gemacht werden“. Zur Umsetzung des Anspruchs „gleiche Bildungschancen“, heißt es, gebe es „einen ganz bösen Verdacht“: immer mehr Kindern würde eine Behinderung attestiert, obwohl sie keine hätten. Sie würden damit ihrer Bildungschancen beraubt, und dies nur, damit ihre Schulen mehr Stellen für Lehrkräfte bekämen.

Erstes Beispiel: Lynn, 19, mit neun für lernbehindert erklärt. Die Lehrer hätten der Mutter erklärt, sie brauche besondere Förderung. Weil sie leichtere Aufgaben bekam, konnte sie keinen Schulabschluss machen. Sie selbst, erzählt sie, habe nie geglaubt, eine Lernbehinderung zu haben. „Nach Jahren“ ergab ein auf Initiative der Mutter durchgeführter Test überdurchschnittliche Intelligenz. Die Diagnose „lernbehindert“ war trotzdem nur mit einer Anwältin vom Tisch zu bekommen. Die kennt solche Fälle offenbar zuhauf. Kein Wunder: die Statistik der Kultusministerkonferenz (KMK) von 2009 bis 2021 zeigt mehr als 100.000 zusätzliche Kinder mit Behinderungen an Regelschulen – die jedoch nicht etwa von Förderschulen dorthin gewechselt sind.

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Zweites Beispiel: Yiğit, vor der Einschulung als geistig behindert diagnostiziert, kam auf die Förderschule. Den Eltern sei gesagt worden: „Auf der Förderschule ist Ihr Sohn besser aufgehoben“, nicht aber, dass er danach nicht einmal einen Führerschein machen kann. „Nach massivem Druck der Eltern“ ist er nun auf der Regelschule – „als Inklusionsfall“ mit leichten Aufgaben, also weiterhin chancenlos. Trotz eines aktuellen überdurchschnittlichen Intelligenztests ist die Forderung der Eltern nach Rücknahme der Diagnose seit einem halben Jahr „ohne Erfolg“.

„Immer mehr Kinder mit offenbar falschen Diagnosen in Regelschulen.“

Bilanz und Fazit der Sendung: „Immer mehr Kinder mit offenbar falschen Diagnosen in Regelschulen“. Dazu die Info: Lynn hat nun den Realschulabschluss und „macht jetzt Fachabitur“.

So, und wem kommt diese ganze Geschichte nun bekannt vor? Kleine Hilfestellung:

Man sieht Lynn mit sogenannt südländischem Aussehen und hört ihre Mutter mit ausländischem Akzent. Man sieht Yiğits Mutter mit dichtem schwarzem Haar und sogenannt mediterranem Teint, neben ihr den Vater mit feinem Schnäuzer, er spricht die ganze Zeit kein einziges Wort. – Fällt Ihnen etwas auf? Nein? Mir schon. Mir fällt auf, dass das genau die Art Menschen sind, deren Kinder schon vor 50 Jahren vorzugsweise als behindert klassifiziert und auf Förderschulen geschickt oder aus nicht nachvollziehbaren Gründen auf die Hauptschule „empfohlen“ wurden. Und nun geht das unter neuem Label wieder genauso los? Oder treffender: es geht gerade so weiter wie schon immer? Same procedure as in the sixties, seventies and eighties, same procedure as every decade? Zur Abwechslung jetzt mal als „Inklusion“?

„Wissenschaftliche Studien haben es als Resultat hervorgebracht. Alle halbwegs gebildeten Menschen können es heute erkennen und beim Namen nennen: Rassismus. „

Ganze Generationen in Deutschland aufgewachsener „Ausländer“, die grundsätzlich als „Gastarbeiterkinder“ galten, auch wenn sie mal keine waren, mussten in ihrem Leben solcherart Erfahrungen machen. Lange habe ich nicht verstanden, warum ich nur eine Realschulempfehlung bekam, obwohl meine Noten besser waren als die meiner Freundin mit Gymnasialempfehlung. Die Lehrerin konnte es mir nicht erklären. Sie dächte einfach, da wäre ich besser aufgehoben, war alles, was sie herausbrachte. Diesen nichtssagenden, anmaßenden Satz aus Lehrerinnenmund, der heute noch ganz genauso daherkommt, wie damals, habe ich noch nach über 50 Jahren in den Ohren. Und ich hatte Glück, denn ich lebte in NRW und konnte dann trotzdem aufs Gymnasium. Eine gleichaltrige Bekannte von mir wohnte in Bayern. Da hatte sie Pech, denn die sogenannte Grundschulempfehlung war dort zwingend: sie musste zur Hauptschule. Nun ist sie nach zeitraubenden schulischen Umwegen schon lange promoviert und habilitiert, eine erfolgreiche Akademikerin.

Wir, die wir in den 70er Jahren oder später so etwas erlebt haben, sind heute viele, sehr viele. Und unsere immer gleichen Geschichten haben wir nun oft genug erzählt und vielfach analysiert. So haben wir verstanden, dass die seltsamen Abqualifizierungen damals gar nicht uns persönlich galten. Sie hatten ein System. Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben es als Resultat hervorgebracht. Alle halbwegs gebildeten Menschen können es heute erkennen und beim Namen nennen: Rassismus.

Die Beispielfälle im Monitor-Beitrag könnten selbstverständlich Zufall sein, aber große Zweifel sind wohl angebracht. Thematisiert wird das durch diese Menschen veranschaulichte schulische Auswahlprinzip aber nicht – was wahrscheinlich kein Zufall ist. Der Überrepräsentanz auf Ebene der Beispielfälle entspricht nämlich eine – leider auch noch immer allzu übliche – Nichtrepräsentanz auf Ebene der konsultierten Fachleute. Sonst wäre es vermutlich irgendjemandem aufgefallen, dass man in der zitierten KMK-Statistik noch mehr lesen kann als nur, dass die unerklärliche Vermehrung geistig behinderter Kinder an Regelschulen „33%“ beträgt, wie die Sprecherin des Monitor-Beitrags mit Entsetzen in der Stimme vorträgt. Dort steht nämlich auch, dass sich der Anteil geistig behinderter Kinder unter „Ausländern“ im selben Zeitraum verdreifacht hat – verdreifacht! Über alle „Förderbedarfe“ hinweg hat sich der Anteil ausländischer Kinder insgesamt sogar vervierfacht. Zwei Drittel hiervon sind als lernbehindert kategorisiert – nicht etwa als mit Sprachförderbedarf.

„Und nun wäre sie mal nützlich, so eine Statistik, die nach ‚Migrationshintergrund‘ differenziert.“

Und nun wäre sie mal nützlich, so eine Statistik, die nach „Migrationshintergrund“ differenziert, die also auch die vielen sogenannten „ndH“-Kinder erfassen würde (d. h. „nicht deutscher Herkunftssprache“) und noch einige mehr mit deutscher Staatsbürgerschaft. Man käme dann nämlich sicher zu einem anderen Verständnis als die im Fernsehbeitrag zitierten Fachleute. Der „Etikettenschwindel“, wie Sozialforscher Marcel Helbig das Problem nennt, erfolgt nämlich wohl nicht einfach „wahllos“, wie Sonderpädagoge Hans Wocken meint, und das „Eintüten“ in einen chancenlosen Bildungsgang ist wohl auch nicht einfach „fahrlässig“, wie Intelligenz-Gutachter Gutachter Stefan Rau es sieht. Allein an der Erklärung von Anwältin Anneliese Quack: „eine Gesellschaft, die nicht richtig hinguckt“, ist wohl etwas dran, wenn auch anders als von ihr gemeint.

Wir, die wir über reichlich situiertes Wissen über solche Phänomene verfügen, gucken heute hin, ganz sicher, denn das ist ein Skandal, und zwar ein doppelter. Und die völlig ausbleibende Resonanz auf diesen Monitor-Beitrag und seinen blinden Fleck ist noch einmal extra beunruhigend. Leitartikel Panorama

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  1. Stefan Böckler sagt:

    Ich finde den Beitrag in mehrfacher Hinsicht aussagekräftig, der Sache nach und aus methodischen Gründen. Zunächst ist tatsächlich zu vermuten, dass der Anteil von `Kindern mit Migrationshintergrund` unter den `Inklusionskindern` überproportional hoch ist und vermutlich ist das zumindest teilweise weniger mit ihren Einschränkungen zu tun hat als mit ihrem Migrationshintergrund. Das wäre allerdings konkret zu belegen.
    Und da wird dann deutlich, dass das nur getan werden kann, wenn es möglich ist, diese Kinder zu identifizieren. Fazit also: Auch solche Diskriminierungen (aber auch tatsächliche gruppenspezifische Defizite, z. B. in sprachlicher Hinsicht) kann man nur identifizieren, wenn man nach Migrationshintergrund und Nicht-Migrationshintergrund unterscheidet, was, wie die Autorin ja selbst andeutet, in anderen Kontexten nicht immer gewünscht ist.

  2. Eli sagt:

    Bei dem Artikel wird möglicherweise eines verkannt: Diese „Auswahl-Praxis“ betrifft nicht nur Kinder mit mehroder weniger bekanntem Migrationshintergrund. Sondern sie resultiert aus einem Konglomerat an Annahmen und Vourteilen von Seiten der Lehrenden, die im Besonderen des sozioökonomischen Status wie auch die antizipierte Bildungsaspiration und Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern beinhaltet. Dass dies bei Menschen mit Migrationshintergrund überproportional häufig Anwendung findet mag sein – ausschließlich ist dies aber nicht. Auch „deutsche“ Kinder aus sozial schwächeren Elternhäusern fallen solchen Etikettierungen und entsprechenden Entscheidungen zum Opfer. Wie man weiß…