Holland, Niederlande, Grenze, EU, Europäische Union
Die Niederlande © Michal O. auf flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Sklaverei endete vor 150 Jahren

Niederlande ringen mit schwerem Erbe der Kolonialzeit

Das Goldene Zeitalter der holländischen Kolonialmacht hat eine dunkle Seite: die Sklaverei. Lange wurde darüber geschwiegen. Das passte nicht zum positiven Image. Nun steht das Land vor der schmerzhaften Wende.

Von Sonntag, 02.07.2023, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 02.07.2023, 18:10 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

An den Amsterdamer Grachten spiegeln sich die eleganten Fassaden der Herrenhäuser im Wasser. Große Fenster ohne Gardinen erlauben einen Blick in die reich verzierten hohen Räume. Wohlstand und Macht strahlt der Grachtengürtel aus, das Unesco-Weltkulturerbe. Im 17. Jahrhundert residierten dort die Amsterdamer Kaufleute und Regenten, Herren des Welthandels und der Weltmeere. Sie brachten mit ihren mächtigen Großseglern kostbare Waren nach Hause und schufen damit das Fundament für den unermesslichen Reichtum im sogenannten Goldenen Zeitalter. Doch so golden war das Zeitalter gar nicht.

Der Reichtum war auf einem brutalen System aufgebaut worden: der Sklaverei. Im ganzen Land findet man bis heute Spuren davon. Man muss sie nur sehen wollen. Sehr lange wollten die meisten Niederländer die schmutzige Seite ihrer Geschichte nicht sehen – doch das ändert sich nun. An diesem Samstag wird das Land das Ende der Sklaverei in seinen ehemaligen Kolonien vor 150 Jahren feiern. Erwartet wird, dass dann König Willem-Alexander in Amsterdam seine Entschuldigung anbietet.

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In diesem Jahr steht das ganze Land am 1. Juli im Zeichen dieses schändlichen Kapitels der niederländischen Geschichte: Zahlreiche Städte, Kirchen und Unternehmen erinnern an ihre eigene Rolle im Sklavenhandel und erkennen ihre Schuld an. Bereits am Freitag gab es im ganzen Land große Gedenkfeiern, Konzerte und Festivals. Mahnmale wurden enthüllt. Minister reisten in die früheren Kolonien, um dort an Gedenkfeiern teilzunehmen.

Sklavenhalter entschädigt wegen Abschaffung der Sklaverei

Für viele Nachfahren von Sklaven in den ehemaligen Kolonien Suriname und der Karibik wäre aber gerade die Geste des Königs ein wichtiges Symbol. Er ist der Repräsentant des Königreichs und auch persönlich betroffen. Denn die Oranje-Familie, so ergab jetzt eine im Auftrag der Regierung erstellte Studie, hatte umgerechnet mindestens eine halbe Milliarde Euro an den Kolonien und dem Sklavenhandel verdient.

Im 17. Jahrhundert waren die Niederlande eine der größten Kolonialmächte und führend im transatlantischen Menschenhandel. Die Kaufleute verschifften nicht nur Kakao, Kaffee, Muskatnuss oder Pfeffer, sondern auch Menschen vorwiegend aus Afrika nach Amerika, aber auch nach Asien. Mehr als 600 000 Menschen wurden in über 200 Jahren versklavt und gezwungen, unter grausamen Umständen auf Zucker-, Kaffee- oder Baumwolle-Plantagen zu arbeiten. Der Staat war „gezielt, lange und strukturell“ daran beteiligt, stellt die Studie jetzt fest.

Offiziell wurde die Sklaverei zwar 1863 abgeschafft. Doch wurden damals noch Zehntausende Menschen verpflichtet, weitere zehn Jahre auf denselben Plantagen zu arbeiten, meist unter denselben erbärmlichen Umständen. Die Sklavenhalter aber wurden entschädigt – pro Mensch.

1. Juli für Schwarze ein Festtag

Der 1. Juli ist für viele Schwarze Niederländer ein Festtag: „Keti Koti“ – „Zerbrochene Ketten“ in der kreolischen Sprache Surinames. Festlich gekleidet ziehen viele dann in den Amsterdamer Oosterpark zum nationalen Sklaverei-Mahnmal.

Im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung bekam das Gedenken an die Sklaverei immer größere Bedeutung auch bei weißen Bürgern. 2021 entschuldigte sich Amsterdam für die Verbrechen. Es folgten die Zentralbank und im vergangenen Dezember auch Premier Mark Rutte: „Wir können Sklaverei in den allerdeutlichsten Worten anerkennen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, sagte Rutte.

Für viele Schwarze Niederländer war das wie eine Befreiung. Als wäre ein Pflaster von der Wunde gerissen worden, sagt John Leerdam, Theatermacher und einer der Beauftragten für das geplante Nationale Sklavereimuseum. „Und jetzt kommt der Eiter aus den Wunden. Es ist nicht mehr zu stoppen.“

Jahrelanges Schweigen

Jahrelang wurde über die Geschichte nicht gesprochen. Bei den Nachfahren war der Schmerz zu groß. Und für die frühere Kolonialmacht passte es nicht zur ruhmreichen Vergangenheit und zum eigenen Selbstbild der toleranten Nation. In den Schulen war es kein Thema. Der König fuhr unbekümmert jedes Jahr in der Goldenen Kutsche zum Parlament, die verziert ist mit Abbildungen von untertänig knienden halbnackten Schwarzen Menschen. Erst 2022 erklärte er, er werde die Kutsche vorerst nicht mehr nutzen.

Das Umdenken fällt vielen schwer. Zwar wissen nun zwei Drittel, dass das Land eine große Rolle im Sklavenhandel gespielt hatte, ergab eine Umfrage. Aber eine Entschuldigung hält jeder zweite eigentlich für unnötig. „Es wird Zeit, Mut zu sammeln und zu schauen, ob wir das Selbstbild der Niederlande als tolerante, demokratische Handelsnation nicht korrigieren müssen“, sagt die Historikerin Esther Captain, die an der neuen Studie beteiligt war.

Auch die Regierung will mehr als nur schöne Worte. Eine Entschuldigung solle kein Schlusspunkt setzen, sondern „ein Komma“, hatte Premier Rutte im Dezember versprochen.

Nachfahren fordern konkrete Schritte

Doch was folgt nach dem Komma? Die Nachfahren der versklavten Menschen fordern konkrete Schritte gegen Diskriminierung, soziale und wirtschaftliche Ungleichheit und Rassismus. Denn mehr als 70 Prozent der Niederländer mit afro-amerikanischen oder karibischen Vorfahren sind davon überzeugt, dass das bis heute Folgen der Sklaverei sind.

„Die zerstörerische Kraft der Sklaverei ist unvorstellbar und reicht weit“, sagt Peggy Brandon, Beauftragte für das geplante Sklavereimuseum. „Es war ein verbrecherisches System, das viel Leid gebracht hat und bis heute Folgen hat.“ Vieles sei noch gar nicht bekannt, sagt Brandon, weil es nie untersucht worden sei. „Es gab eine lange Stille. Es wird Zeit, diese Stille zu durchbrechen.“

In den früheren Kolonien ist man skeptisch, ob sich etwas ändern wird. Die Entschuldigung im Dezember hatte dort zu heftiger Verstimmung geführt, weil die Regierung in Den Haag im Alleingang gehandelt hatte. Erwartet werden Wiedergutmachungszahlungen und Respekt von der früheren Kolonialmacht. (dpa/mig) Aktuell Ausland

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