„Migrationskrieg“
Streit um Asylkompromiss eskaliert beim EU-Gipfel
Es ist ein 25 gegen 2 - und doch weckt der Gipfel Zweifel am Zustand der EU. Polen und Ungarn stellen sich klar gegen den Asylkompromiss. Das hat darauf zwar keine direkten Konsequenzen, könnte aber weitere EU-Vorhaben gefährden.
Von Ansgar Haase und Theresa Münch Sonntag, 02.07.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 01.07.2023, 16:33 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Der EU steuert wegen des ungelösten Streits um Pläne für eine weitreichende Asylreform auf eine neue Zerreißprobe zu. Ungarn und Polen verhinderten am Freitag bei einem Gipfeltreffen in Brüssel eine gemeinsame Erklärung zur Flüchtlingspolitik und drohten weitere Schritte an. Die beiden Staaten protestierten dagegen, dass die Asylpläne vor rund drei Wochen gegen ihren Willen per Mehrheitsentscheidung auf den Weg gebracht wurden. Aus Sicht von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird die Blockade den Gesetzgebungsprozess allerdings nicht aufhalten.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban sprach am Rande des Gipfels im staatlichen Radio von einem „Migrationskrieg“ im Sitzungssaal. Die Haltung Polens und Ungarns beschrieb er mit den Worten: „Es war ein Freiheitskampf, kein Aufstand!“ Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel empörte sich über die Haltung Polens und Ungarns. „Sie sagen einfach: Wir sind nicht einverstanden, dass die Mehrheit was entschieden hat, mit dem wir nicht einverstanden sind.“
Auch Deutschland steht zwar nur mit äußerster Mühe hinter dem nach jahrelangem Streit von den Innenministern ausgehandelten Asylkompromiss. Das hat allerdings ganz andere Gründe als Ungarn und Polen anführen. Grüne und SPD quält, dass Asylverfahren angesichts der Probleme mit illegaler Migration deutlich verschärft werden sollen und zum Beispiel Minderjährige unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Einrichtung kommen könnten. Ob das wirklich so kommt, muss noch mit dem Europaparlament ausgehandelt werden, das bei dem Thema ein Mitspracherecht hat.
Kein Wille zur Solidarität
Polen und Ungarn wollen hingegen nicht zur Solidarität mit Ländern wie Italien und Griechenland gezwungen werden, in denen viele Geflüchtete ankommen. Die EU-Pläne sehen vor, dass die Aufnahme von Flüchtlingen künftig nicht mehr freiwillig, sondern verpflichtend sein soll. Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, müssten zum Ausgleich Geld zahlen.
Genau das ist aus Sicht von Scholz der Schlüssel: Wer keine Geflüchteten aufnehmen wolle, könne seinen fairen Anteil über finanzielle Beteiligung tragen. „Und das ist aus meiner Sicht völlig plausibel, dass das nachher dann auch die Praxis wird in Europa, das eine oder das andere“, sagte Scholz.
Orban „mit Händen und Füßen“ dagegen
Orban kündigte am Freitag hingegen an, man werde „mit Händen und Füßen, mit Zähnen und Klauen“ gegen die geplante Regelung ankämpfen. Er drohte damit, EU-Gelder für die Lieferung von Waffen und Ausrüstung an die ukrainischen Streitkräfte weiter zu blockieren. Polen forderte beim Gipfel, jedes EU-Land solle selbst entscheiden können, wie es Staaten mit besonders hohen Migrationszahlen unterstützt.
Dass das neue Asylrecht zustande kommt, ist vor allem im Interesse Italiens, wo viele Menschen auf der Mittelmeerroute ankommen. Trotz des Heckmecks auf dem Gipfel zeigte sich die italienische Ministerpräsidentin Georgia Meloni aber hochzufrieden. Bei der externen Dimension der Migration – also letztlich der Frage, wie Migranten von der Überfahrt übers Mittelmeer abgehalten werden – seien sich alle 27 Staaten einig. Die Einwände Polens und Ungarns bezögen sich auf die interne Verteilung Geflüchteter auf die Mitgliedsstaaten. „Ich bin nicht enttäuscht über die Haltung Polens und Ungarns, ich bin nie enttäuscht von denen, die ihre nationalen Interessen verteidigen“, sagte die rechtsnationale Politikerin.
Erinnerung an 2015/2016
Die Situation erinnert an die Hochphase der Flüchtlingsbewegung 2015/2016. Im Zuge der stark steigenden Geflüchtetenzahlen war schon damals gegen den Willen von Ländern wie Ungarn und Polen ein Verteilungsschlüssel beschlossen worden, der nicht akzeptiert wurde und zu Verfahren am Europäischen Gerichtshof führten.
Ob und wenn ja welche Konsequenzen der Konflikt haben wird, ist unklar. Als Risiko gilt, dass Ungarn und Polen aus Protest gegen die Mehrheitsentscheidung der Innenminister andere wichtige EU-Entscheidungen blockieren, bei denen einstimmige Beschlüsse erforderlich sind. So muss zum Beispiel in den nächsten Monaten eine Einigung darüber gefunden werden, wie Lücken im langfristigen EU-Haushalt gefüllt werden sollen.
Polen verweist auf Frankreich
Hoffnung in der EU ist, dass zumindest die polnische Politik ein Stück weit dem derzeitigen Wahlkampf geschuldet ist und sich die Lage nach der Parlamentswahl im Herbst entspannen könnte. Zunächst aber scheint sich der Ton dadurch eher noch zu verschärfen. Regierungschef Mateusz Morawiecki nutzte am Freitag die jüngsten Krawalle in Frankreich für seine Argumentation gegen die Asylreform. „Geplünderte Geschäfte, verwüstete Restaurants, brennende Polizeiautos und Barrikaden auf den Straßen – wollen wir so ein Bild in Polen sehen?“, fragte er.
Ein weiteres Risiko für das Projekt der Asylreform sind Forderungen aus dem Europaparlament, die denen der deutschen Bundesregierung entsprechen. Im Kreis der Mitgliedstaaten wird befürchtet, dass zum Beispiel Ausnahmen für Minderjährige von strengen Asylverfahren dazu führen könnte, dass Länder wie Italien ihre Zustimmung zu dem Projekt am Ende wieder zurückziehen. Die jahrelangen Arbeiten wären dann vermutlich umsonst gewesen. (dpa/mig) Aktuell Politik
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