Opa, der Täter?
Der eigenen Familiengeschichte in der NS-Zeit auf der Spur
Der Opa kämpfte an der Ostfront, die Ur-Oma ließ Zwangsarbeiter auf ihrem Hof schuften: Welche Verantwortung trugen die eigenen Vorfahren für das Nazi-Regime? Wer deren Geschichte erforscht, gewinnt neue Einsichten in die Mechanismen der Diktatur.
Von Stefan Fuhr Mittwoch, 26.04.2023, 18:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 26.04.2023, 9:56 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Lorenz Völker hat seinen Großvater als liebevollen, gutmütigen und intellektuellen älteren Mann erlebt. „Er war die Friedfertigkeit und Reflexion in Person“, sagt der Sport- und Geschichtslehrer. Die NS-Zeit spielte in den Familiengesprächen häufig eine Rolle – um die persönliche Verantwortung des Großvaters Hans Dombois, eines Juristen, ging es dabei jedoch nicht.
Nach Dombois’ Tod Ende der 90er Jahre will Völker mehr über dessen Zeit in Kriegsgefangenschaft erfahren. Dabei stößt er auf die Entnazifizierungsakte des Großvaters. Die Familie erfährt, dass Dombois in der NSDAP und in der SA war. Ein in der Akte enthaltener Lebenslauf gibt Einblicke in dessen Wirken als Staatsanwalt – und wirft weitere, drängende Fragen auf. „Wir haben festgestellt, dass wir nichts wussten“, sagt Völker, Jahrgang 1970. Er beschließt, seine Recherchen zu vertiefen.
Großvaters Geschichten oft lückenhaft
Die Frage, wie die eigenen Angehörigen in das NS-Regime verstrickt waren, treibt viele Deutsche um. Im Jahr 2021 verzeichnete das Bundesarchiv rund 56.000 Anfragen zur NS-Zeit, von denen sich mehr als 42.000 auf Personen bezogen. Die Zahl liegt seit mehreren Jahren auf ähnlichem Niveau. Im Bundesarchiv lagern unter anderem Wehrmachtsunterlagen, die NSDAP-Mitgliederkartei und SS-Personalakten.
„Viele Menschen machen sich auf die Suche, weil in der Familie zum Beispiel eine Geschichte zu den Kriegserlebnissen des Großvaters kursiert“, sagt der Historiker Johannes Spohr. Die familiären Erzählungen seien dabei oft lückenhaft. „Belastende Aspekte werden nicht benannt.“ Spohr betreibt einen Recherchedienst, an den sich wenden kann, wer bei der Spurensuche Unterstützung braucht. Detektivisch trägt er Puzzleteile zusammen: Neben der Archivarbeit geht er auch soziologisch vor, erforscht, wo jemand gearbeitet, gelebt, gewohnt hat.
Rekonstruktion von Geschichte
Lorenz Völker konnte anhand von Akten des Landgerichts Potsdam rekonstruieren, an welchen juristischen Verfahren sein Großvater beteiligt war. Unter anderem fand er heraus, dass Dombois 1938 den Juden Alfred Lehmann wegen „Rassenschande“ anklagte, also wegen der Beziehung zu einer nicht-jüdischen Frau. Lehmann wurde verurteilt, kam ins KZ, wo er im Alter von 33 Jahren ermordet wurde.
„Mein Großvater war definitiv für die Aufrechterhaltung des Systems mitverantwortlich und hat dessen Bedingungen bewusst in Kauf genommen“, sagt Völker. Das Bild, das sich ergibt, ist dennoch ambivalent. 1935 klagte Dombois einen Amtsträger der SA an, der versucht hatte, eine jüdische Oberschülerin zu vergewaltigen. Der Mann wurde zu einer Haftstrafe verurteilt.
Familie Täter oder Opfer?
Uneindeutiges, Widersprüchliches entdecken viele Recherchierende. „Das Innenleben eines Menschen ist rückblickend schwer zu erforschen“, sagt Spohr. Die wenigsten hätten persönliche Unterlagen wie Tagebücher hinterlassen – und selbst wenn, seien diese Dokumente schwierig zu dechiffrieren.
Auch wenn Zehntausende sich Jahr für Jahr an die Archive wenden – die meisten Deutschen sind der Auffassung, dass ihre Familie für die Nazi-Diktatur keine Verantwortung trug. In der „Memo“-Studie 2020 der Stiftung Erinnerung, Vergangenheit, Zukunft gaben nur 23,2 Prozent der Befragten an, es habe in ihrer Familie Täter gegeben. 35 Prozent hingegen zählten ihre Familie zu den Opfern.
Großvater als Täter schwer vorstellbar
„Es ist schwer vorstellbar, dass der eigene Großvater oder der eigene Urgroßvater Teil eines mörderischen Regimes war“, erläutert der Historiker Steffen Jost von der Alfred Landecker Foundation, die sich für die Aufarbeitung der NS-Zeit einsetzt. „Manche tendieren sogar dazu, die eigene Familie nur als Opfer zu sehen: Man hat gelitten an der Ostfront, unter ‚Bombenhagel’ und ‚Hungerwinter’.“
Zu den Tätern würden in der allgemeinen Vorstellung meist nur die Führungsfiguren um Hitler und die Mörder in den Vernichtungslagern gezählt, führt Jost aus. Tatsächlich sei das Täterbild aber sehr viel breiter: „Schuldig wurden zum Beispiel auch Wehrmachtsoldaten, die Erschießungen beaufsichtigten, und Bahnbeamte, die Züge in Vernichtungslager schickten.“
Holocaust ist nicht nur Auschwitz
Mit der Recherche zur Geschichte der eigenen Familie entsteht ein persönlicher Bezug zur NS-Zeit. Dabei lasse sich erkennen, „wie leicht das Mitmachen in einem totalitären System funktioniert, wie leicht eine Gesellschaft ins Mörderische kippen kann“, erklärt Jost. „Zum Holocaust gehören nicht nur Auschwitz und Babi Jar, sondern auch die Mitgliedschaft beim BDM und das Profitieren von Arisierung und Zwangsarbeit.“
Für Lorenz Völker, der über seine Recherchen ein Buch verfasst hat, blieb der persönliche Bezug nicht auf archivarische Erkenntnisse beschränkt: Er nahm Kontakt zu Angehörigen des ermordeten Alfred Lehmann auf. Ein in den USA lebender Neffe besuchte Völker in Deutschland, bis heute stehen die Familien miteinander in Verbindung. (epd/mig) Aktuell Feuilleton
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