Heil und Faeser in Kanada
„Warum sind Sie nicht nach Deutschland gekommen?“
Ohne Arbeitskräfte aus dem Ausland wird es künftig nicht gehen, lautet die Botschaft der Ampel-Koalition. Beim Ortstermin in Kanada erfahren deutsche Regierungsmitglieder, was eine Einwanderungsgesellschaft ausmacht.
Von Anne-Béatrice Clasmann Dienstag, 21.03.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 21.03.2023, 12:47 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Als Hajrit Singh 2016 aus dem indischen Bundesstaat Punjab nach Ottawa kommt, hat er keine genaue Vorstellung, was ihn in Kanada erwarten wird. Was den naturwissenschaftlich begabten Schüler anzieht, ist die Aussicht auf einen Studienplatz in Elektrotechnik. „Am Anfang bin ich zu einem Tempel gegangen, um Anschluss bei Menschen mit der gleichen Religion zu finden, die meine Sprache sprechen“, erinnert sich der 25-Jährige, der zur Religionsgemeinschaft der Sikhs gehört. Heute seien, was neue Bekanntschaften angeht, auch andere Kriterien für ihn wichtig, zum Beispiel gemeinsame Interessen.
Neben dem Mann mit dem lange Bart und dem orangefarbenen Turban steht eine Kollegin mit Kopftuch, die vor 24 Jahren aus dem Libanon eingewandert ist. Die beiden Einwanderer sind zwei von 350 Mitarbeitern der Firma Siemens Healthineers, die in Ottawa tragbare Blutanalysegeräte für den Weltmarkt produziert. „Warum sind Sie nicht nach Deutschland gekommen?“, wollen Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und seine Kabinettskollegin, Innenministerin Nancy Faeser, von den Forscherinnen, Laborkräften und Ingenieuren wissen, die ihren Arbeitsplatz in einem ehemaligen Gebäude der kanadischen Post haben. Deutschland sei als Einwanderungsland wenig bekannt, bekommen sie zu hören. Die Sprache sei schwierig, die Visaverfahren langwierig.
Heil beeindruckt von der kulturellen Vielfalt
Die gemeinsame Reise der beiden SPD-Bundesminister dient als Vorbereitung für einen Kabinettsbeschluss, den sie spätestens in zwei Wochen anstreben. Dann soll über den Entwurf für ein neues Fachkräfte-Einwanderungsgesetz entschieden werden. „Ein moderner Wirtschaftsstandort braucht Technologie und auch Talente, aber eben auch Toleranz“, sagt Heil, sichtlich beeindruckt von der kulturellen Vielfalt im Einwanderungsland Kanada.
Damit Arbeitskräfte den Weg nach Deutschland finden, sollen nicht nur die Anforderungen teilweise abgesenkt und ein Punktesystem eingeführt werden. Die Beantragung des Arbeitsvisums soll künftig auch einfacher sein. „Wir müssen alles beschleunigen, was man beschleunigen kann“, sagt Heil, von der Visavergabe bis hin zu den Verfahren der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Faeser will das geplante unbedingt noch mit einem zweiten Vorhaben verknüpfen: die erleichterte Einbürgerung. Ausländer sollen grundsätzlich schon nach fünf und nicht erst nach acht Jahren Deutsche werden können. Die doppelte Staatsbürgerschaft soll auch für Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten erlaubt sein – bisher gilt das nur in Ausnahmefällen.
Einwanderung mit dem Ziel, Staatsbürger zu werden
„Für die Arbeitskräfte ist sehr entscheidend, dass man in Kanada richtig einwandert, das heißt mit dem Ziel, auch am Ende kanadischer Staatsbürger zu werden oder kanadische Staatsbürgerin“, sagt Faeser. „Und auch das wollen wir in Deutschland ermöglichen, deswegen verändern wir auch das Staatsangehörigkeitsrecht.“ Gegen einige Elemente dieser Reform hat die FDP allerdings Bedenken angemeldet.
Amy Ng (32) ist in Ottawa geboren, hat Neurowissenschaften studiert, arbeitet in der Forschungsabteilung von Siemens Healthineers. Ihre Mutter, eine Mathematikerin, war 1989 aus Brunei eingewandert. Mit ihren Kolleginnen und Kollegen verbringt die Forscherin auch nach Feierabend und am Wochenende Zeit. Ihr Freund stammt aus dem Libanon, renoviert Häuser. „Handwerker sind hier in Kanada Mangelware, deshalb ist alles, was mit Renovierungen und Hausbau zu tun hat, gut bezahlt“, sagt sie.
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Darum, das kanadische Einwanderungsrecht als Blaupause für die anstehende Gesetzesänderung in Deutschland zu nehmen, geht es bei Heil und Faeser nicht. Dafür sind die Unterschiede zu groß. In Kanada ist der Anteil der Menschen, die Einwanderer der ersten oder zweiten Generation sind, viel höher als in Deutschland. Zudem gibt es kaum irreguläre Migration. Das bedeutet, dass die im Vergleich zu Deutschland geringe Zahl an Flüchtlingen in der Regel Menschen sind, bei denen der kanadische Staat vorab geschaut hat, ob ein Schutzgrund vorliegt. In einem neuen Pilotprojekt wird zudem geschaut, ob man gezielt Menschen aus Flüchtlingslagern die Umsiedlung nach Kanada anbieten soll, um sie dann direkt mit Arbeitgebern zusammenzubringen.
Das in Deutschland seit Jahren hitzig diskutierte Problem der Abschiebung von Ausreisepflichtigen stellt sich in Kanada nicht. Eine Herausforderung, die Kanada und Deutschland teilen, ist die Anerkennung ausländischer Qualifikationen. Iranische Ingenieure, die Kioske betreiben oder Taxi fahren, das gibt es sowohl in Kanada als auch in Deutschland.
Rassismus und Diskriminierung scharf sanktioniert
Aschraf Taufik hat in Ägypten eine Fachschule für Hotellerie und Tourismus besucht und anschließend mehrere Jahre in einem Hotel in Saudi-Arabien gearbeitete. In Kanada hat er nicht in seinem ursprünglichen Beruf Fuß fassen können. Stattdessen arbeitete er zunächst in einem Supermarkt, dann in einem Altersheim und inzwischen als Übersetzer. Dass er 1999 mit seiner Frau und den Kindern nach Toronto kam, bereut der Ägypter trotzdem nicht. An seinem neuen Zuhause schätzt Taufik die Arbeitnehmerrechte und die Bildungschancen für seine drei Kinder. Auch dass Rassismus und Diskriminierung scharf sanktioniert werden, findet der muslimische Einwanderer gut. Neben der ägyptischen besitzt er inzwischen auch die kanadische Staatsbürgerschaft.
Für seine Ehefrau, die in Ägypten Medizin studiert habe, sei es mit der Anerkennung ihrer Ausbildung schwierig gewesen, erzählt der Mittfünfziger. Sie habe schließlich eine Umschulung gemacht und arbeite heute als Psychotherapeutin. Zwei seiner Neffen in Ägypten belegten aktuell Deutsch-Kurse im Goethe Institut berichtet er. Ihr Ziel sei ein Studium in Deutschland. (dpa/mig) Leitartikel Panorama
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