„Alles ist besser als Turnhallen“
Kommunen müssen wieder mehr Schutzsuchende unterbringen
Über eine Million Ukrainer sind 2022 nach Deutschland geflüchtet. Sie sind nicht die einzigen - auch die Zahl Schutzsuchender aus anderen Ländern ist gestiegen. Von den Kommunen ist Flexibilität gefordert - ein Besuch auf dem Messegelände Hannover.
Von Julia Pennigsdorf Sonntag, 29.01.2023, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 29.01.2023, 13:23 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Der Deutschkurs ist längst zu Ende, doch Kasim Sayan sitzt noch immer am Tisch und lernt. „Obst, Wasser, Kaffee“ steht in ordentlicher Schrift in seinem Block, daneben: „Ich komme, Du kommst, er, sie, es kommt „. „Ich bin Kurde und komme aus der Türkei“, sagt der 35-Jährige – erfreut, dass ihm der Satz so flüssig über die Lippen kommt.
Dreimal in der Woche finden in Halle 8 auf dem Gelände der Deutschen Messe in Hannover Deutschkurse statt. Und nicht nur das. In der Halle, die für die Stadt Hannover als Erstaufnahme fungiert, werden Post und Essen ausgegeben, 115 Waschmaschinen und Trockner säumen die Längsseite. Die Stadt verteilt Starterpakete, die etwas Geld, eine Fahrkarte und den „Hannover-Aktiv-Pass“ enthalten. Der Betreiber European Homecare hat hier sein Büro. 18 Mitarbeiter beraten die Flüchtlinge.
Nebenan in Halle 9 sind Zelte aufgebaut, mit je zwölf Betten. Es gibt eine Sanitätsstelle, einmal die Woche kommt das Zahnmobil. Bis zu 2.592 Menschen finden hier Platz. Die Betten können auf 3.500 aufgestockt werden, dann müssten sich 16 Menschen ein Zelt teilen. „Gut, dass wir flexibel sind, aber dazu wird es hoffentlich nicht kommen“, sagt Guram Alibegashvili, der bei European Homecare für die Region Hannover zuständig ist. „Alles ist allerdings besser als Turnhallen.“
244.000 Asylsuchende und eine Million Ukrainer
Mehr als 244.000 Menschen haben dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zufolge 2022 in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Damit ist die Zahl nicht-ukrainischer Schutzsuchender um 28 Prozent gegenüber 2021 gestiegen. Ukrainer müssen kein Asyl beantragen, sie erhalten sofort einen befristeten Aufenthaltstitel. Bis zum Jahresende 2022 wurden mehr als eine Million ukrainische Kriegsflüchtlinge registriert – die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Auch das Messegelände ist für sie Anlaufstelle. Ukrainer finden Hilfe in den Hallen 27 und 13.
Rund 244.000 Asylsuchende und eine Million Menschen aus der Ukraine – für das Land Niedersachsen heißt das: Zum Stichtag 15. Januar 2023 wurden knapp 110.000 Ukrainer registriert, dazu kommen etwa 10.000 Menschen, die zurzeit in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes untergebracht sind.
EU erwartet mehr Geflüchtete
Wie viele Menschen 2023 nach Deutschland kommen, weiß niemand. Das hängt unter anderem vom Verlauf des Ukraine-Krieges ab. Die EU rechnet aufgrund der Vielzahl geopolitischer Krisen mit einem erneuten Anstieg der Asylbewerberzahlen. Eine aussagekräftige Einschätzung sei nicht möglich, sagt eine Sprecherin des Bamf. „Es wird immer die Herausforderung bestehen, auf unterschiedliche Szenarien eingestellt zu sein.“
Unterschiedliche Szenarien – Alibegashvili lacht. Der gebürtige Georgier weiß um die Herausforderung, einerseits ausreichend Kapazitäten, andererseits kein Überangebot vorzuhalten. Auf dem Messegelände in Hannover ist die Situation derzeit noch entspannt. Es ist ruhig in den sonnendurchfluteten Hallen, 350 Menschen sind da – vor allem Männer zwischen 18 und 50 Jahren. Die Syrer, Afghanen, Türken trinken Kaffee, blicken auf Ihre Handys. Laut Bamf entfielen im Jahr 2022 rund 60 Prozent aller Asylerstanträge auf diese drei Nationalitäten. Dazu kommen Menschen aus dem Irak, Iran, Georgien, Kolumbien und Russland.
Monate in Messehallen
Der Deutsche Städtetag warnte schon vor einem Monat, dass die Aufnahmekapazitäten vielerorts ausgeschöpft seien. „Viele Städte bauen bereits Notunterkünfte auf, stellen Wohncontainer auf oder mieten Hotels an“, sagte Städtetag-Präsident Markus Lewe (CDU).
Alibegashvili, der in der Region Hannover elf Flüchtlingsheime betreut, bestätigt, dass es schwieriger wird, freie Plätze zu finden, damit die Menschen von den Behelfsunterkünften in kleinere Wohnprojekte ziehen können. Eigentlich sollen sie nur wenige Wochen in den Messehallen bleiben, für manche werden es Monate. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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