Interview mit Kien Nghi Ha
„Bis zum Pogrom lebte ich in einer realitätsfernen Blase“
Vor 30 Jahren kam es im Stadtteil Rostock-Lichtenhagen zu einem massiven rassistischen Pogrom gegen osteuropäische Roma und vietnamesische Vertragsarbeiter:innen. Kultur- und Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha erklärt im Gespräch die Unsichtbarmachung der Opfer in der Erinnerungspolitik und ihre Auswirkungen auf die vietdeutsche Community.
Von Marten Brehmer Montag, 22.08.2022, 15:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 22.08.2022, 14:48 Uhr Lesedauer: 14 Minuten |
Marten Brehmer: Herr Ha, zum 20. Jahrestag des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen schrieben Sie 2012, dass das Interesse der Öffentlichkeit an den Ausschreitungen zu den runden Jahrestagen immer wieder schlagartig ansteige, aber kaum nachhaltige Erinnerungsarbeit stattfinde. Hat sich zehn Jahre später daran etwas geändert?
Kien Nghi Ha: Die Konjunktur, ein wichtiges zeithistorisches Ereignis anlässlich von Jubiläen und Jahrestagen besonders sichtbar zu machen, ist durchaus sinnvoll und erstmal auch vollkommen nachvollziehbar. Das ist an sich nicht problematisch. Problematisch ist aber, wenn ein eklatantes Missverhältnis zwischen einer weitgehenden Nicht-Thematisierung als Normalzustand und den aufgesetzten Gedenktagen als Ausnahmezustand existiert. Dann wird das Gedenken zu einer Show- und Alibiveranstaltung, die das Unsichtbarmachen und Verschweigen übertüncht und auch legitimiert, da die politisch Verantwortlichen dann sagen können: „Wir haben Rostock-Lichtenhagen doch gar nicht vergessen. Wir haben zum 10. und 20. Jahrestag großartige Veranstaltungen mit prominenten Gästen durchgeführt und die bundesweite Presse hat auch ganz toll darüber berichtet“. So kann man ein unangenehmes Pflichtthema ohne eine ehrliche und schmerzhafte inhaltliche Auseinandersetzung formal abhaken und auch noch politisch Kapital daraus schlagen. Auf mich wirkt diese Form „des Gedenkens“ hohl und unehrlich, um nicht zu sagen heuchlerisch. So wird offiziell immer noch nicht des Pogroms gedacht, da das Ereignis euphemistisch meist als Krawalle oder Ausschreitungen bezeichnet wird.
Zum 30. Jahrestag des Pogroms plant die Stadt Rostock eine Veranstaltungsreihe. Wie bewerten Sie die Bemühungen der Stadtverwaltung, an das Pogrom zu erinnern?
Es wird offizielle Veranstaltungen der Stadt geben. Details sind bisher – soweit ich weiß – nicht öffentlich bekannt gegeben worden. Früher fiel das Thema nach den Festtagen wieder fast völlig unter dem Tisch und war damit bis zum nächsten publicityträchtigen Pflichtdatum wieder aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein und politischem Blickfeld verschwunden. Seit 2017 hat sich das ein Stück weit geändert, da die bis dato vorherrschende Strategie zu sehr aus der Zeit gefallen ist. Der fortschreitende politische Diskurs über das eigene Selbstverständnis als plurale Einwanderungsgesellschaft machte eine Modernisierung im Umgang mit dem Pogrom in Lichtenhagen notwendig. Das plumpe Abfeiern zu den Jahrestagen lag zu offensichtlich im Konflikt mit den erinnerungspolitischen Mindeststandards, die sich etwa durch die Aufarbeitung der rassistischen NSU-Terrormorde langsam etablieren. So hat die Stadt Rostock zum 25. Jahrestag ein dezentrales Mahnmal an fünf Standorten aufgestellt, neben dem Sonnenblumenhaus auch am Rathaus, an der Polizeidirektion, am Verlagshaus der Ostsee-Zeitung und in einem Park, wo früher das alternative Jugendzentrum stand. Darüber hinaus wird auch eine halbe Stelle für ein Dokumentationszentrum finanziert. Das sind bescheidene Schritte, die zwar eine Verbesserung zum früheren Status quo darstellen, aber bei weitem nicht ausreichen.
Sehr schade ist, dass die Chancen und Potentiale, die mit dem dezentralen Gedenkkonzept angelegt sind, nicht genutzt wurden. So hat sich die Stadt bei dem Wettbewerb für das abstrakte Modell der Rostocker-Künstlergruppe SCHAUM entschieden. Statt die Geschichte vor Ort konkret und menschlich nahbar aufzuzeigen, werden universelle Gesten wie die Umarmung, schwer verständliche Symboliken (ein Vogelhaus) oder emotionslose Gesetzeszitate verwendet. Ihr Arbeitsmotto für das öffentliche Gedenken lautet „Die Kunstwerke wollen keine Antworten oder Schuldzuweisungen geben“. Die weißen und mit einer Grundfläche von jeweils nur 0,16 qm extrem raumsparenden Installationen fragen dementsprechend auch nicht wirklich nach Ursachen, Verantwortung und Konsequenzen. Sie sind extrem unauffällig und leicht zu übersehen, da sie oft versteckt stehen oder sich optisch im weitläufigen Stadtraum auflösen. Selbst wenn man aktiv danach sucht, sind sie nicht leicht zu finden. So bleibt der Eindruck, dass mit dem minimalistischen Mahnmal erneut nur eine Pflichtaufgabe erfüllt wurde, die im Alltag möglichst wenig stört und wehtut. Bitter bleibt auch der Nachgeschmack, dass erst nachträglich ein Mahnmal für die Roma und vietnamesischen Betroffenen des Pogroms aufgestellt wurde. Es wurde ein Jahr später von zivilgesellschaftlichen Organisationen finanziert, da die Stadt Rostock die Opfer der rassistischen Gewalt erneut vergessen hat. So werden auch im Modernisierungsprozess tradierte Strukturen reproduziert und fortgesetzt.
Ein Bündnis antirassistischer und antifaschistischer Gruppen plant eine Großdemonstration am 27. August. Derartige Demonstrationen gab es bereits zu anderen Jahrestagen. Wie bewerten Sie diese Versuche, das Gedenken stärker zu politisieren?
Ich sehe in diesen Demonstrationen keine politische Instrumentalisierung. Meines Erachtens nach geht es bei der Demonstration darum, Solidarität mit allen Rassismusbetroffenen auszudrücken, an gesellschaftliche Ursachen und politische Verantwortlichkeiten für das Pogrom zu erinnern und eine weitergehende Aufarbeitung einzufordern. Auch sollen zivilgesellschaftliche Strukturen vor Ort gestärkt werden. Es ist klar, dass öffentlicher Druck auf kommunale Akteure aus Politik und Verwaltung notwendig ist, damit sich etwas bewegt, die Einsicht entsteht, dass Programme und Konzepte erarbeitet werden müssen und das was bisher da ist keinesfalls ein Schlussstrich sein kann. Das lokale Bündnis, dass die Demo organisiert, hat ein Positionspapier veröffentlicht. Darin fordert sie die Angriffe in Rostock-Lichtenhagen offiziell endlich als Pogrom anzuerkennen. Die Perspektiven der Betroffenen sollen in einem nachhaltigen Aufarbeitungs- und Erinnerungsprozess nicht nur einbezogen, sondern Priorität gegeben werden. Und das Bündnis spricht sich für einen gleichberechtigten Dialog zwischen Zivilgesellschaft und Politik aus. Ich denke, dass diese Forderungen für eine angemessene Gedenkpolitik und Erinnerungsarbeit in der pluralen Einwanderungsgesellschaft mit demokratischem Anspruch absolut notwendig sind.
Wie könnte ein angemessenes Gedenken aussehen?
Es wäre wichtig, Strukturen und Institutionen für eine kontinuierliche Erinnerungsarbeit für die Gesellschaft zu entwickeln, zu etablieren und ausreichend zu finanzieren. Dann wäre so vieles denkbar: wöchentliche Angebote für Schulklassen und regelmäßige Führungen für alle Interessierten, ein antirassistisches soziokulturelles Zentrum mit vielfältigen Workshops und Kursen in Lichtenhagen selbst, alljährliche Kulturfestivals. Das Wichtigste wäre für mich ein Museum mit Dauer- und Wechselausstellungen, die nicht nur der Vorgeschichte, den Ablauf und Nachwirkungen des Pogroms gewidmet sind, sondern auch benachbarte Kontexte thematisiert: z.B. die Einwanderungsgeschichte der Stadt, ihre Rolle in der deutschen Kolonialgeschichte und in der NS-Zeit, die Extremisierung von Nationalismus und Rassismus im Zuge der deutschen Einheit, die Geschichte rassistischer Gewalt in Deutschland, aber genauso auch eine Auseinandersetzung mit institutionalisierten Rassismus etwa in der sog. Ausländerpolitik und der Geschichte der Gast- bzw. Vertragsarbeiter:innen in West- und Ostdeutschland, Antisemitismus in Vergangenheit und Gegenwart, neue Communities von Geflüchteten aus dem Nahen Osten, Afghanistan und der Ukraine etc.
Wie wurde das Pogrom in der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung aufgearbeitet?
Es gibt einen sehr auffälligen Kontrast: Trotz der herausragenden gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Bedeutung des Pogroms sind bisher sehr wenige Forschungsprojekte durchgeführt und Publikationen veröffentlicht worden. In den letzten drei Jahrzehnten sind weniger als eine Handvoll wissenschaftlicher Monographien oder Sammelbände erschienen, die sich dezidiert mit dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen und seinen Nachwirkungen auseinandersetzen. Darüber hinaus gibt immer wieder mal einige Master- und Bachelorarbeiten von interessierten Studierenden. Es ist bisher aber kein Thema, dass ein großes Forschungsinteresse hervorgerufen hat. Was die Gründe angeht, kommen hier einige Faktoren zusammen: Vermutlich wurden die Aussichten auf eine Forschungsförderung als gering angesehen oder das Thema als wenig karrierefördernd erachtet. Vielleicht reflektiert das Desinteresse einfach die Nicht-Betroffenheit der Weißen Dominanzgesellschaft oder spiegelt auch nur den jahrzehntelang gepflegten Ritus des Wegschauens.
In Ihrer Forschungstätigkeit beschäftigen Sie sich viel mit der Gemeinschaft von Vietnamstämmigen in Deutschland. Welche Spuren hat das Pogrom in der Community hinterlassen?
Das ist schwierig zu sagen, weil es keine systematische Forschung dazu gibt, so dass wir hier auf subjektive Eindrücke und individuelle Erfahrungsberichte angewiesen sind. Sicherlich ist davon auszugehen, dass das Ereignis extrem traumatisierend wirkte und bereits bestehende Marginalisierungs- und Ausgrenzungserfahrungen, besonders in der vietnamesischen Community in Ostdeutschland, nochmals stark verschärft hat. Im Vorfeld hatten rassistische Reden führender Politiker:innen und die teilweise aufhetzende Medienberichterstattung ein großes Gefühl der Verunsicherung ausgelöst. Der verweigerte Schutz durch die Polizei, selbst dann als das Sonnenblumenhaus bereits in Flammen stand, war sehr dramatisch und nährte das Misstrauen gegenüber deutschen Behörden. Im Nachgang erhielten die Opfer keine Entschädigung oder Entschuldigung, sondern wurden meistens abgeschoben. Auch die geringe Anzahl von zumeist milden Strafen, die teilweise erst nach zehn Jahren zustande kamen, musste in den Augen der Opfer wie eine nachträgliche Verhöhnung des Rechtsstaats wirken.
Obwohl die zumeist aus ehemaligen Boat People-Familien bestehende Viet-Community in Westdeutschland teilweise anti-kommunistische Vorbehalte gegen die Landsleute in Ostdeutschland hatte, waren sie als Asiatisch rassifizierte Menschen von der grassierenden rassistischen Gewalt nicht ausgenommen, die trotz regionaler Schwerpunkte im gesamten Bundesgebiet wütete. Es gab natürlich Betonköpfe, die an alte Feindbilder aus den Zeiten des Kalten Krieges festhielten. Andere empfanden angesichts der überwältigenden menschlichen Not und der brutalen Gewalt eine große Empathie für die Angegriffenen. Trotz aller Differenzen brachte ironischerweise die gemeinsame Betroffenheit durch den deutschen Einheitsrassismus eine Annäherung in dieser durch koloniale Kriege geteilten Community.
Eine Beobachtung, von der Sie in zahlreichen Publikationen berichten, ist die, dass innerhalb der Community nur wenig über das Geschehene gesprochen wird. Eine Interviewpartnerin in ihrer aktuellen Veröffentlichung – eine junge Frau, deren Eltern sich zum Zeitpunkt des Pogroms in Rostock aufhielten – berichtet, dass Sie nicht von ihrer Familie, sondern von Mitschülern das erste Mal von Lichtenhagen hörte. Wie erklären Sie sich dieses Schweigen?
Die Betroffenen wurden ja auch nicht gefragt, und es ist auch nicht so, dass die deutsche Gesellschaft sich bisher übermäßig für ihre Erfahrungen und Perspektiven interessiert hätte. Obwohl seit kurzem Projekte wie „MigOst“ für selbst erzählte Migrationsgeschichte in Ostdeutschland laufen, fehlt es nach wie vor an Räumen, Archiven und Möglichkeiten zur kulturellen und gesellschaftlichen Aufarbeitung dieser Zeit. Und natürlich stellt die Sprachbarriere ein wichtiges Hindernis dar, so dass es viel Zeit braucht, um nicht nur eine (eigene) Stimme zu finden, sondern sich selbstbewusst eine Fremdsprache anzueignen und darin heimisch zu werden.
Angesichts der Tatumstände und der Verstricktheit von Politik, Medien und Sicherheitsorganen erwarteten die angegriffenen Communities keine Hilfe von der Weißen Mehrheitsgesellschaft. Ihre Erfahrungen waren diesbezüglich eindeutig: Statt Entschädigung und eine angemessene juristische Aufarbeitung der rassistischen Gewalt, waren sie von Abschiebung bedroht. Gerade die ständigen Konflikte mit deutschen Verwaltungen aufgrund des ungesicherten Aufenthaltsrechts, löste grundsätzliche Ängste aus. Wer mit solchen fortdauernden existenzbedrohenden Problemen konfrontiert ist, hat natürlich nicht den Kopf frei sich mit solchen unangenehmen Themen auseinanderzusetzen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoller, sich auf andere Themen zu konzentrieren und den Blick auf praktische Dinge zu richten, die die Betroffenen selbst beeinflussen können.
Hinzu kommen Schamgefühle und Verdrängung: Es ist schmerzhaft und sehr unangenehm, sich als Ziel oder gar als hilfloses Opfer von rassistischen Angriffen zu sehen. Aber diese psychologischen Mechanismen bauen fast alle Gewaltopfer als Selbstschutz auf, um den Alltag weiterhin bewältigen zu können. Außerdem ist es im Allgemeinen schwierig, aus der Ich-Perspektive öffentlich über negativ konnotierte Themen und Erfahrungen zu sprechen, da ein positives Selbstbild in der Außendarstellung den meisten wichtig ist. Zwar hat in ostasiatischen Kulturen die Gefahr des „Gesichtsverlustes“ einen hohen Stellenwert. Aber auch in westlichen Kulturen werden vermeintlich persönliche Probleme häufig tabuisiert. Es ist daher auch nicht merkwürdig oder kulturspezifisch, dass Eltern ihre Kinder schützen wollen, so dass es nicht sinnvoll erscheint, diese mit den eigenen, psychologisch evtl. immer noch unverarbeiteten Erfahrungen und Problemen zu belasten.
Wie ordnet sich das Pogrom in die Erfahrungen von Vietnamstämmigen in Deutschland ein?
Die meisten kamen als Vertragsarbeiter:innen in die DDR, wo sie in isolierten Heimen wohnten, als Asiat:innen im Alltag exotisiert wurden, aber auch mit rassistischen Zumutungen wie ungleichen Lohn und Diskriminierung am Arbeitsplatz zu kämpfen hatten. Die Ethnisierung der Arbeitslosigkeit im Zuge der Abwicklung der DDR-Betriebe verschärfte ihre aufenthaltsrechtlich wie sozial prekäre Situation nochmals. Wenn wir uns an den jahrelangen Kampf für das Bleiberecht der ehemaligen Vertragsarbeiter:innen in Erinnerung rufen, dann wird schnell klar, wie mühselig, kostenintensiv und nervenaufreibend die Auseinandersetzung mit dem Ausländeramt für die Betroffenen für jede auf wenige Monate befristete Duldung war. Es fiel der Politik sehr schwer, das rigide Regime des Ausländerrechts zu lockern und als 1997 dann eine Bleibeperspektive zustande kam, wurden möglichst hohe Auflagen eingebaut. Viele mussten in die Zwangsselbstständigkeit gehen, um nicht durch Sozialhilfebezug ihr Aufenthaltsrecht zu gefährden und überlebten diese Situation nur durch selbstausbeuterische Arbeitsbedingungen. Eine kleine Minderheit ließ sich in ihrer Notlage teilweise auf Geschäftspraktiken im Graubereich ein oder waren tatsächlich in kriminelle Aktivitäten verwickelt. Gerade die Polizei spielte in dieser Zeit eine sehr unrühmliche Rolle, wobei die aufsehenerregenden Missbrauchsfälle auf dem Polizeirevier Bernau im Jahr 1994 nur eine von vielen Fällen des institutionalisierten Rassismus in dieser Behörde darstellt. Insoweit widerspricht das Pogrom nicht den bis dato gemachten Deutschlanderfahrungen, sondern reiht sich als negativer Höhepunkt in die Serie von rassistischen Diskriminierungs-, Marginalisierungs- und Gewalterfahrungen ein.
Vietnamstämmige und andere als ostasiatisch wahrgenommene Menschen wurden in Deutschland während der Corona-Pandemie vermehrt angefeindet. Knüpft das an Muster an, die schon 1992 eine Rolle spielten, oder handelt es sich um ein neues Phänomen?
Der anti-Asiatische Rassismus ist so alt wie der europäische Kolonialismus selbst. Spätestens mit der Erfindung von unterschiedlichen menschlichen „Rassen“ durch europäische Aufklärer, die Weiße an die Spitze der Entwicklungspyramide stellen, wird dieser Rassismus in europäischen Diskurs manifest. Parallel dazu werden große Teile Asiens durch europäische Mächte in einem jahrhundertelangen Prozess erobert und kolonialisiert, so dass das Weiße Selbstverständnis mit der Zeit immer stärker mit der unhintergehbaren Überzeugung der eigenen Höherwertigkeit verknüpft ist, während Asians wie andere People of Color als minderwertig gelten. In den letzten Jahren hat das Feindbild „China“ im Zuge der globalen Machtverschiebung in Richtung Indopazifik in vielen westlichen Medien erheblich an Fahrt gewonnen. Nicht nur Chinas Politik im Inneren, auch seine Außen- und transnationale Wirtschaftspolitik werden dabei weitaus kritischer betrachtet als etwa die imperialen Kriege der USA in den letzten Jahrzehnten. Dieser Aspekt sollte bei der Analyse des Corona-Rassismus nicht unbeachtet bleiben.
Interessant finde ich auch den Bezug zur chinesischen Migrationsgeschichte in den USA. Dort werden 1882 zunächst Chinesen und 1924 alle Asians als einzige „rassische“ Gruppe gesetzlich von der Einwanderung ausgesperrt und ihnen als letzte Gruppe das Einbürgerungsrecht dauerhaft verweigert. Erst 1965 werden diese spezifisch anti-Asiatischen Gesetze gänzlich abgeschafft. In Bezug auf Rostock-Lichtenhagen ist es interessant, sich vergleichend die nahezu 200 Pogrome und Vertreibungen von chinesischen Arbeitsmigranten-Communities an der US-Westküste gegen Ende des 19. Jahrhunderts anzuschauen. Diese Gewalt rührte vor allem daher, dass Asiatische Menschen in der Weißen Gesellschaft als „rassisch“ fremd und als gesellschaftlich unzugehörig markiert werden. Sie werden als bedrohliche wie billige Massenkonkurrenz auf dem Arbeitsmarkt konstruiert, die mit Gewalt vernichtet oder vertrieben werden muss. Ihnen wurde auch unterstellt, dass ihr Arbeitsfleiß und ihre Ausdauer geradezu unmenschlich sei. Diese Enthumanisierung und Degradierung zur Arbeits- und Lernmaschine finden wir nun vermeintlich positiv verpackt auch in Reportagen über das sogenannte vietnamesische Bildungswunder wieder, die in den letzten Jahren immer wieder mal erscheinen. Um diese Fremdzuweisungen zu konterkarieren, habe ich den Sammelband programmatisch „Asiatische Deutsche“ (2021) genannt, dass erstmals 2012 erschienen ist und sich vor allem an die hier aufgewachsene zweite Generation aus Asiatisch-deutschen Familien richtet.
Im Zuge der vermehrten Einwanderung von Asylsuchenden seit 2015 kam es erneut zu Demonstrationen vor Flüchtlingsheimen und auch Brandstiftungen. Könnten sich die pogromartigen Ausschreitungen von Lichtenhagen auch heute noch wiederholen?
Ja. Vor dem Pogrom in Lichtenhagen dachten alle, dass sowas nach der Nazizeit in Deutschland nicht mehr möglich sei. Das dachte ich auch. Bis zum Pogrom lebte ich in einer realitätsfernen Blase und dachte, ich sei integriert, weil ich den deutschen Pass habe und studierte. Rostock-Lichtenhagen und die explosionsartige rassistische Gewaltwelle in den 1990er Jahren zeigten mir, dass es ein anderes, sehr dumpfes und immer noch ziemlich schwarzbraunes Deutschland gibt. Das Pogrom dauerte vier Tage. Es war ein Volksfest mit Deutschlandweit angereisten Teilnehmenden. Es gab Bratwurstbuden, viel Bier und ein jubelndes Publikum. Und obwohl dieses rassistische Spektakel in aller Öffentlichkeit zelebriert und im Fernsehen live übertragen wurde, war das absolut Unmögliche trotzdem möglich bzw. wurde durch das Versagen der Weißen Institutionen möglich gemacht. Solange es einen strukturellen Rassismus in der Gesellschaft gibt und die Institutionen dieses Machtungleichgewicht abbilden und rassistische Hierarchien mit Leben füllen, ist Rassismus in jeder Form denkbar und möglich.
Interview Leitartikel PanoramaDies ist eine erweiterte Fassung eines Interviews, das unter dem Titel „Es gab Bratwurstbuden, viel Bier und ein jubelndes Publikum“ in „konkret – Zeitschrift für Politik und Kultur“ (08/2022) erschienen ist.
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