Interview mit Conrad Schetter

Friedensforscher über Afghanistan: „Wir müssen lernen, von unseren eigenen Schablonen wegzukommen“

Die Taliban herrschen seit einem Jahr erneut über Afghanistan. Der Westen hat sich seitdem weitgehend aus dem Land zurückgezogen. Friedensforscher Conrad Schetter erklärt im Gespräch, warum er das für einen Fehler hält.

Von Sonntag, 14.08.2022, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 13.08.2022, 12:38 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Herr Schetter, wie beurteilen Sie das Verhältnis des Westens zu Afghanistan?

Conrad Schetter: Mit dem Abzug der westlichen Truppen am 31. August 2021 sind die westlichen Länder, die Europäer, die USA, auf große Distanz zu den Taliban gegangen und wollen mit den Taliban erst wieder zusammenarbeiten, wenn man Vertrauen fasst und die Taliban gewisse Konditionen erfüllen, was bisher nicht der Fall ist. Hier wurde stark auf eine Politik der Sanktionierung gesetzt. Andere Länder haben ihre Botschaften in Kabul behalten und sehen eher, wie man mit den Taliban zusammenarbeiten kann. Das sind zum Beispiel Saudi Arabien, die Golfstaaten, Pakistan, aber auch Iran, Indien und Russland, die nach wie vor im Land präsent sind.

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Durch den Ukraine-Konflikt ist Afghanistan wieder in den Schatten der großen Weltkonfliktlinien geraten. Andererseits bekommt das Land wieder eine größere Bedeutung, weil Afghanistan an China angrenzt und China wegen Taiwan wieder mehr in den Fokus rückt, und gleichzeitig Russland in Afghanistan präsent ist. Afghanistan wird wieder zu einer geopolitischen Drehscheibe, bei der der Westen mittlerweile erkennt, dass es zu wichtig ist, als dass man sich hier langfristig herauszieht, weil es einen Destabilisierungsfaktor für die gesamte Region darstellt. Die Frage ist, wie lange es sich der Westen noch leisten kann, aus Afghanistan draußen zu bleiben.

Sie plädieren in Ihrem Buch dafür, die Taliban differenzierter zu sehen. Zugleich sagen Sie auch, dass teilweise sehr brutal vorgegangen wird. Wo müssen wir differenzieren?

Wir haben im Westen das Bild von den steinzeitlichen Fundamentalisten, die alle nur rückwärtsgewandt sind. Wenn man aber die einzelnen Biografien von Taliban- Führern betrachtet, kann man feststellen, dass sie sehr unterschiedlich sind. Manche haben ökonomische Interessen, manche sind an Bildung interessiert, andere am Wiederaufbau. Teilweise sind sie sehr pragmatisch ausgerichtet, teilweise auch sehr ideologisch. Ein zweiter Blick auf die Taliban lohnt sich, um zu sehen, wer die Akteure sind, die eine Zukunftsperspektive für das Land aufbringen. Manche sind nach unseren Vorstellungen in einigen Bereichen sehr radikal und gleichzeitig in anderen moderat, so wie die Haqqani-Gruppe aus dem südöstlichen Afghanistan, die für sehr viele Selbstmordattentate verantwortlich gezeichnet hat, sich gleichzeitig aber bei der Mädchenbildung recht offen zeigt.

„Wir müssen lernen, von unseren eigenen Schablonen wegzukommen und zu verstehen, dass in Afghanistan die Sicht auf Dinge komplexer ist, als unsere.“

Wir müssen lernen, von unseren eigenen Schablonen wegzukommen und zu verstehen, dass in Afghanistan die Sicht auf Dinge komplexer ist, als unsere. Dann sieht man auch, wo es Möglichkeiten gibt, mit ihnen zu sprechen und einige Entwicklungsmöglichkeiten für die Zukunft umzusetzen.

Der Westen müsste sich mehr damit beschäftigen, wer die Taliban sind, um gezielt mit denen zu sprechen, die zugänglicher sind für bestimmte Werte und Themen?

Genau. Man muss immer schauen, wo man eine Allianz mit den Taliban finden kann, um gewisse Themen zu besprechen. Und es müssen nicht immer die gleichen drei oder vier Führungsleute sein, sondern es können zu ganz unterschiedliche Themen unterschiedliche Taliban sein. Man sollte eher auf der informellen Ebene Versuchsballons steigen lassen. Aber Gespräche mit den Taliban zu suchen, halte ich für unabdingbar.

Sind diese Taliban denn offen für Gespräche?

Es wurde bisher verfehlt, solche Gespräche zu führen. Aus der Perspektive der Friedens- und Konfliktforschung lernen wir aber, dass es ganz zentral ist, zu kommunizieren, ohne etwas zu versprechen, einfach nur um ein Verständnis der anderen Seite zu bekommen. Ich muss nicht einverstanden sein, aber vielleicht gibt es einzelne Aspekte, wo ich sage, ja, genau hier haben wir eine Sache, an der wir gemeinsam arbeiten können.

Und parallel dazu die Sanktionen weiterlaufen lassen, auch wenn sie zur Not in dem Land beitragen, weil beispielsweise die Reserven der afghanischen Nationalbank eingefroren sind?

Ja, daran kommt man nicht vorbei, darin muss man sehr klar sein. Die Sanktionen werden längerfristig bleiben. Es muss sich erst erkennbar zeigen, dass die Taliban sich in eine Richtung bewegen, die auch eine Kooperation mit der internationalen Gemeinschaft zulässt.

„Es ist eine Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft, dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung in Afghanistan nicht verhungert.“

Es kann gut sein, dass die Zivilbevölkerung darunter sehr, sehr leiden wird. Es ist wichtig zu versuchen, die humanitäre Hilfe aufrechtzuerhalten. Natürlich laden die Taliban gegenwärtig nicht dazu ein, Spender für dieses Land zu finden. Aber es ist eine Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft, dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung in Afghanistan nicht verhungert.

Stabilisiert die humanitäre Hilfe damit nicht die Regierung der Taliban?

Das ist eine ganz zentrale Frage. Es gibt Akteure, die sich gegen humanitäre Hilfe aussprechen. Aber es ist Teil des humanitären Völkerrechts, dass Menschen das physische Überleben gesichert werden soll, gleich welche politischen Regime in einem Land existieren. Wichtig ist dabei, dass die Hilfe über das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen und internationale Organisationen läuft und nicht über die Taliban-Regierung, um deutlich zu machen, dass damit eine Legitimierung der Taliban nicht einsetzen soll.

„Die Taliban sind eine sehr fragmentierte, heterogene Gruppierung. Es gibt die Befürchtung, dass durch den Rückzug der internationalen Gemeinschaft die Radikalen eher ein machtpolitisches Übergewicht bekommen.“

Es gibt auch Stimmen, die sagen, man muss auch mit der längerfristigeren Entwicklungshilfe weitermachen, damit die Projekte der vergangenen Jahre keine Ruinen werden. Und das andere Argument ist, dass man jetzt gerade versuchen muss, die Moderaten innerhalb der Taliban-Bewegung zu stärken. Das zeigt sich auch beim Thema Mädchenbildung, Stellung der Frau. Denn die Taliban sind eine sehr fragmentierte, heterogene Gruppierung. Es gibt die Befürchtung, dass durch den Rückzug der internationalen Gemeinschaft die Radikalen eher ein machtpolitisches Übergewicht bekommen.

Sehen Sie, dass sich insgesamt eher die konservativen Kräfte durchsetzen?

Das ist sehr schwer zu sagen. Wir haben kaum Einblicke in die Führungsstrukturen der Taliban. Für zentraler halte ich, dass es einen sehr starken Konflikt gibt zwischen der zentralen Führung der Taliban und den verschiedenen lokalen Herrschern. Die Frage ist, ob es der Führungs-Elite gelingt, das gesamte Land unter ihre Kontrolle zu bringen. Dagegen spricht einiges. Das kann dazu führen, dass das Land in einzelne Kriegsfürstentümer zerfällt, die sich eventuell auch gegen die Zentrale richten.

Ist das ein Szenario, das man fürchten muss im Hinblick auf weitere Gewalt?

Richtig, wir sehen das bei dem sogenannten IS, der vor allem im Osten des Landes erstarkt ist und für viele Attentate im Land verantwortlich zeichnet, der im Kern aus ehemaligen frustrierten Mitglieder der Taliban besteht. Und die Gefahr ist, dass solche Art von Fürstentümer und Abspaltungen in der Zukunft noch stärker auftreten werden. Zumal man bedenken muss, dass gerade auch die Nachbarstaaten, allen voran Pakistan, aber auch Iran, Interesse haben, ihre eigenen Gruppierungen innerhalb Afghanistans zu unterstützen und zu stärken. Ein Zerfall des Landes wäre nicht nur für das Land selbst dramatisch, sondern auch für die Entwicklung der Region. (epd/mig) Aktuell Ausland Interview

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