Nebenan
Patridiotismus
Die Grenzen des Sag- und Denkbaren sind wieder einmal ein Stück verschoben – diesmal in the UK! Das Land, das das tat, für das wir heute China kritisieren.
Von Sven Bensmann Montag, 08.08.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 08.08.2022, 8:23 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Es ist Sommerloch, und weil in Deutschland neben der Kriegsgruselei und einer – natürlich völlig berechtigten – Diskussion darüber, dass jene Bundesländer, die sich seit Jahren und Jahrzehnten geweigert haben, in regenerative Energien und Stromtrassen zu investieren, gerade völlig unverschuldet in die Not geraten sind, weil sie zu wenig Strom zu haben – zu der ich ehrlicherweise wenig mehr beizutragen habe als: Lasst sie doch im Dunkeln frieren, die Bayern! – schauen wir halt einmal in das Königreich.
Dort ist der Kampf der Aasgeier um den verrottenden Leichnam des Premiers nämlich bereits entbrannt. Und weil der aller Wahrscheinlichkeit nach zukünftige Premier einen Namen hat, der zu wenig nach Eton’scher Inzucht und zu sehr nach Currytopf klingt, muss der kreativer nach rechts grüßen, als das ein Boris Johnson konnte. Hatte der nach guter konservativer Tradition nämlich stets die „guten“ weißen Arbeiter gegen die „schlechten“ Zuwanderer ausgespielt und so den Brexit erreicht, sind Rishi Sunaks Eltern Inder – die dann auch noch aus Kenia und Tansania, also Schwarzafrika, nach England auswanderten. Zwar erklärt auch Sunak, die Aufnahme von Ausländern, insbesondere Flüchtlingen, deutlich begrenzen zu wollen, aber für jene Arbeiterschicht, die nicht Labour, sondern Tories wählt, weil sie immer noch glaubt, die Ausländer und nicht die Tories sind für ihr Elend verantwortlich, wird das vielleicht nicht reichen.
Und so hat Sunak dieser Tage etwas ganz besonders Originelles erdacht – unter dem dann auch noch jeder verstehen kann, was er oder sie will, und das praktisch in alle intellektuell zurückgebliebenen Milieus anschlussfähig ist: Er will alle, die Britannien „hassen“, kriminalisieren und wie Extremisten behandeln. Er präzisierte dann noch, es gehe um die „Vilification of the United Kingdom“, so etwas wie die Verunglimpfung, wörtlich das „zum-Bösewicht-machen“, des Königreichs und seiner Geschichte.
Was aber soll eigentlich der Maßstab für diese massive Zensur sein? Es ist leicht zu argumentieren, dass hüben wie drüben die Nationalisten und selbsternannten Patrioten diejenigen sind, die ihr Land am meisten hassen. Sie hassen die Zugezogenen, diejenigen, die friedlich mit ihnen zusammenleben, die freie „Lügenpresse“, die „linksgrünversiffte“ Politik, die offene Mehrheitsgesellschaft, die Freiheit, kurz: Das Land in dem sie leben – versteckt hinter einer Liebe zu einer rückwärtsgewandten Utopie, einer Nation, die es nie gab und in der früher alles besser war.
Aber die wird Sunak ja kaum meinen, eher das Gegenteil. Für ihn, zumindest aber für diejenigen, an die er sich mit diesem Vorstoß wendet, werden die extremistischen „UK-Hasser“ eher diejenigen sein, die sich kritisch mit dessen Vergangenheit auseinandersetzen, mit dem Sklavenhandel, mit den Millionen Menschen, die für das „Empire“, das einmal ein Drittel der Erdoberfläche umspann, sterben mussten, um sie der Krone Untertan zu machen und in dem es schon einmal so ein Gesetz gab, um Widerstand in den Kolonien brechen zu können. Für sie werden es die sein, die die gewaltsame Geschichte von Unterdrückung und kultureller Auslöschung thematisieren, als England das tat, für das wir heute China kritisieren: Es verbat beispielsweise in Schottland den Kilt und wohl auch den Dudelsack, um dessen Rebellion zu brechen, in Irland löschte es die Geschichte der Insel praktisch vollständig aus. Vielleicht ließe sich daraus ja auch eine Brücke schlagen zu Nicola Sturgeon und ihrer Kabale, die das Vereinte Königreich zerschlagen und Schottland in die Unabhängigkeit treiben will? Wir werden sehen, was Sunak zum neuen Schottland-Referendum zu sagen haben wird.
Und das führt mich zur AfD. Denn es ist schon sehr nahe an der „Vogelschiss“-Erzählung der Neonazis, an jener „erinnerungspolitischen Wende“ um 180°, die Hitlers Fanclub fordert. Auch wenn das UK – anders als Deutschland – nicht das Glück hatte, durch die Opfer seiner Gewalt zu einem kritischen Umgang mit sich und seiner Vergangenheit gezwungen zu werden, hat in den letzten Jahren insbesondere der Kulturwandel im offenen Teil der US-Gesellschaft auch zu einem Kulturwandel im UK geführt, auf den die Konservativen nun eben den Backlash angehen.
Anders als die AfD sind die Tories aber halt sehr wohl auch in der Lage, diese Politik in die Realität umzusetzen, die Erosion des Common Sense, der gemeinsamen Realität aller Wähler, ist in Großbritannien bereits weiter vorangeschritten und mit der Murdoch-Presse gibt es Massenmedien, die ganz tief in einer Bubble stecken, die den Lesern heute noch erzählen, dass Boris Johnson nicht gescheitert sei und die auch heute noch den Brexit als riesigen Erfolg feiern.
Dies Ausdruck einer protofaschistischen Entwicklung zu nennen, ist nicht weit hergeholt, selbst wenn es sich bei dem genannten Vorstoß erstmal nur um genau das handelt: Die Grenzen des Sag- und Denkbaren sind wieder einmal ein Stück verschoben. Bisher lief das im UK weniger lautstark ab, als in den USA. Aber das liegt vielleicht auch nur an den vielen charakterlichen Schwächen eines Donald Trump, der selbst im Vergleich zu Boris Johnson ein ungehobelter Trampel ist, vielleicht auch daran, dass die EU, trotz all ihrer konzeptionellen Schwächen, die sich im Umgang mit Ungarn und Polen zeigen, bisher als moderierender Faktor auf das UK gewirkt hat. Trotz aller antidemokratischen Sentimente innerhalb der Konservativen wollte wohl niemand im sich selbst als Mutterland der Demokratie verstehenden Inselstaat vor dem europäischen Kadi stehen wegen antidemokratischer Umtriebe. Befreit von den Fesseln elterlicher Aufsicht könnte diese Entwicklung im Vereinten Königreich nun aber Fahrt aufnehmen, bis es dann heißt: „Good guys win, bad guys lose and as always: England prevails.“ Hat auch im Film gut funktioniert. Meinung
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