Spitzel und Denunzianten

In Russland nimmt das Misstrauen gegenüber der Bevölkerung zu

In Russland gibt es immer mehr Denunziationen wegen Äußerungen gegen den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Um Mitbürger bei den Behörden anzuschwärzen, gibt es unterschiedliche Gründe. Einige wollen damit ihre politische Loyalität beweisen.

Von Montag, 18.07.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 17.07.2022, 16:09 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Regina (Name geändert) ist 21 Jahre alt und studiert an einer der Universitäten in Moskau an der Fakultät für Geschichte. Anfang April rief ihre Tante sie an, weil die Polizei nach ihr suchte. „Mein Vater hatte eine Beschwerde gegen mich geschrieben, weil ich angeblich Posts gegen den Krieg in sozialen Netzwerken veröffentliche, die russische Armee diskreditiere und zur Tötung von Russen aufrufe“, sagte die Studentin dem „Evangelischen Pressedienst“.

Ihr Vater rief laut Regina auch den russischen Inlandsgeheimdienst FSB an. Obwohl der Polizei auffiel, dass ihr Vater bei der Anzeige betrunken war, verfolgte sie den Fall weiter. An diesem Tag musste Regina zur Befragung auf die Polizeiwache. Dort wurde ihr Handy überprüft, zuvor hatte sie alle Messenger-Informationen gelöscht. Sie wurde gezwungen, eine Erklärung zu unterschreiben, dass ihr Vater ein Alkoholiker ist und fiktive Geschichten erzählt. Danach durfte sie gehen.

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Drei Motive für Denunziationen

Später wollte ihr Vater sich herausreden, er sei hereingelegt worden, alles sei nicht so schlimm, sagt Regina. Entschuldigt hat er sich aber nicht. Seitdem hat sie keinen Kontakt mehr zu ihm. „Mein geliebter Bruder schaut zu viel staatliche Fernsehsendungen, wo es viel Aggression und Beschimpfungen gibt. Sogar ein gesunder Mensch wäre bei solchen Dingen überreizt und er leidet unter Alkoholismus“, sagt Reginas Tante, bei der sie zusammen mit ihrer Großmutter aufwuchs.

Die Anthropologin Alexandra Archipowa von der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentlichen Dienst in Moskau nennt drei Motive für Denunziationen: „Sie können aus materiellem Gewinn erfolgen, um etwa einem Nachbarn ein Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung wegzunehmen, um sich selbst zu schützen und auch aus ideologischen Gründen.“

Denunziation aus ideologischen Gründen

In der ehemaligen UdSSR sei es strafbar gewesen, keine Denunziation zu schreiben. Dies sei jetzt nicht mehr der Fall. Der Wissenschaftlerin zufolge sind Denunziationen jedoch aus ideologischen Gründen in Russland inzwischen weit verbreitet: „Der Präsident sagt, dass wir interne Feinde haben, nach denen wir suchen müssen, also fangen die Leute an, nach ihnen zu suchen.“

Durch Denunziationen wollen Menschen laut Archipowa unter anderem auch die Richtigkeit ihrer politischen Position beweisen. Denunziationen sind der Anthropologin zufolge „ein Mittel des kalten Bürgerkriegs, der in Russland stattfindet“. Dabei handele es sich um Äußerungen zu politischen Delikten, worüber es in der Gesellschaft zwar keinen Konsens gibt, aber wofür man eine harte Strafe bekommen kann.

Mehr als 2.000 Verfahren

Eine Denunziation wird oft als Grund benutzt, um ein Verwaltungsverfahren wegen Militärdiskreditierung oder sogar ein Strafverfahren wegen der Verbreitung von „Fälschungen“ über die russische Armee einzuleiten. Wegen des ersten Artikels gibt es schon fast 2.000 Fälle in Russland.

Normalerweise wird dafür eine Geldstrafe von etwa 35.000 Rubel (umgerechnet rund 590 Euro) verhängt, wie das unabhängige russische Menschenrechtsmedienprojekt „OWD Info“ mitteilte. Nach dem zweiten Artikel drohen den Angeklagten bis zu 15 Jahre Haft. Inzwischen wird gegen mehr als 50 Personen ermittelt. Beide Artikel traten nach dem russischen Angriff auf die Ukraine in Kraft.

„Es passieren schreckliche Dinge“

Regina hatte Glück, es wurde kein Verfahren gegen sie eröffnet. Aber der Kontakt mit der Polizei verschlechterte ihre Situation erheblich. „Als Kind hatte ich viele schreckliche Episoden, aber Erwachsene ignorierten sie oft, glaubten mir nicht, wollten nicht akzeptieren, dass mein Vater zu viel trank, dass er sich aggressiv verhielt, und die Polizei reagierte nicht schnell genug darauf“, sagte sie.

Jetzt sei die Situation im Land dieselbe, sagt Regina: „Es gibt einen Krieg, es passieren schreckliche Dinge und die Leute wollen es nicht sehen, weil es ihnen schwerfällt, es zu akzeptieren.“ (epd/mig) Ausland Leitartikel

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