Grenzräume
Die Geister, die wir riefen…
Unsere Lebensweise ist eine imperiale und hat direkten Einfluss auf Migrationsbewegungen. Entscheidend für den Lebensstandard, den wir haben, ist, dass wir anderorts Gesellschaften ausbeuten.
Von Lukas Geisler Montag, 18.07.2022, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 18.07.2022, 16:58 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
In der letzten Kolumne entwickelte ich einen Aktionsplan für die No Border-Bewegung – zumindest wollte ich einen Anstoß dazu geben. In darauffolgenden Diskussionen stieß ein solcher Vorschlag auf Gegenwehr: So ein Aktionsplan sei zum Scheitern verurteilt. Die Klimabewegung, von der diese Überlegungen entlehnt sind, ist in den letzten Monaten nach großen Erfolgen von Ende Gelände, Fridays for Future und etlichen Waldbesetzungen erst durch die Pandemie, dann durch den Angriffskrieg Putins ins Stocken geraten.
Doch auch andere Faktoren verhindern eine erfolgreiche sozial-ökologische Transformation. Um diese zu beleuchten, möchte ich von der Strategie zur Theorie zurück. Denn auch aus den theoretischen Diskussionen der Klimabewegung lassen sich Schlüsse für das restriktive Migrationsregime ableiten sowie die Frage beantworten, warum der Ausarbeitung eines Aktionsplans mit Skepsis begegnet wird.
Die imperiale Lebensweise
„Entscheidend für den Lebensstandard, den wir haben, ist, dass wir anderorts Gesellschaften ausbeuten.“
Die Politikwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen entwickelten die Begrifflichkeit der imperialen Lebensweise. Der Kerngedanke ist ein einfacher: Das alltägliche Leben im sogenannten globalen Norden wird wesentlich über die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse im globalen Süden ermöglicht. Dies geschieht über einen unbegrenzten Zugriff auf das Arbeitsvermögen, die Ressourcen und die Ökosysteme. Entscheidend für den Lebensstandard, den wir haben, ist, dass wir anderorts Gesellschaften ausbeuten.
So ist uns die Herkunft von Rohstoffen, Haushaltsgeräten, medizinischen Apparaten, Textilien, Lebensmitteln und anderen alltäglichen Konsumgütern, weitestgehend unbekannt. Auch der Energieaufwand, der für die Produktion gebraucht wird, muss anderorts extrahiert werden. Dabei bleiben die Produktionsbedingungen und Lieferwege im Dunkeln – werden gar explizit verschleiert. Wir alle kennen mittlerweile etliche Beispiele. Klamotten aus Bangladesch, Erdbeeren aus China und Tomaten, die von illegalisierten Migrierenden in Andalusien für den nordeuropäischen Markt produziert werden.
Das ‚gute‘ Leben
„Gerade der kulturelle Aspekt ist entscheidend, denn das, was als das ‚gute‘ Leben angesehen wird, beruht weitgehend auf der imperialen Lebensweise, die anderenorts Lebensgrundlagen zerstört.“
Dabei verweist der Begriff der imperialen Lebensweise auf Produktions-, Distributions- und Konsumnormen in ihren politischen, ökonomischen, aber auch kulturellen Alltagspraktiken der Bevölkerung im globalen Norden. Gerade der kulturelle Aspekt ist entscheidend, denn das, was als das ‚gute‘ Leben angesehen wird, beruht weitgehend auf der imperialen Lebensweise, die anderenorts Lebensgrundlagen zerstört. Das Konzept von Brand und Wissen betont, dass gerade die Mittelklassen im globalen Norden von der Ausbeutung des globalen Südens profitieren. Doch nicht nur das, die strukturellen Bedingungen im globalen Norden verunmöglichen es sogar ein richtigeres Leben im Falschen zu führen.
Dabei drückt die imperiale Lebensweise auch widersprüchliche Gleichzeitigkeit aus, denn zum einen können wir nicht aus unserer Haut und uns entziehen. Wie wir leben, ist uns mehr oder weniger vorgegeben. Andererseits beuten wir Menschen im globalen Süden aus. So drückt der Begriff drückt neokoloniale globale Nord-Süd-Herrschaftsverhältnisse aus. Das Konzept der imperialen Lebensweise fragt also danach, wie die alltägliche Lebensweise unter neoliberalen Bedingungen dadurch gelingt, dass die sozial-ökologischen destruktiven Folgen externalisiert, das heißt auf andere Menschen an anderen Orten verlagert werden können.
Und anderenorts?
„Es werden Enteignungen durchgesetzt, Gemeingüter wie Wasser privatisiert, Vertreibungen durchgeführt. Es kommt zu Verarmungsprozesse sowie der Zerstörung von Umwelt und Natur. Menschen anderenorts werden marginalisiert und der Lebensgrundlage beraubt. „
In jeglichen Debatten der kritischen politischen Ökonomie – von Karl Marx und Rosa Luxemburg bis David Harvey – wird darauf hingewiesen, dass billige Rohstoffe essenziell sind, damit eine kapitalistisch organisierte Produktionsweise funktionieren kann. Dass diese billigen Rohstoffe zur Verfügung stehen, werden die rechtlichen Rahmen geschaffen oder es wird direkt auf Gewalt gesetzt, um an diese zu kommen. Es werden Enteignungen durchgesetzt, Gemeingüter wie Wasser privatisiert, Vertreibungen durchgeführt. Es kommt zu Verarmungsprozesse sowie der Zerstörung von Umwelt und Natur. Menschen anderenorts werden marginalisiert und der Lebensgrundlage beraubt.
Solche kolonialen und imperialen Logiken ziehen sich durch die kapitalistische Entwicklungsgeschichte. Durch das Beruhen der imperialen Lebensweise des globalen Nordens auf sozial-ökologischer Exklusivität sowie der damit verbundenen Notwendigkeit eines Außen zur Externalisierung der negativen Folgen entstehen ökoimperiale Spannungen.
Die Grenzarchitektur der imperialen Lebensweise
In den letzten Jahren sehen wir, wie die exklusive imperiale Lebensweise des globalen Nordens immer konfliktträchtiger und gewaltförmiger verteidigt wird. Grenzarchitektur lässt sich in diesen theoretischen Zusammenhang einordnen. Die selektive (Un-)Durchlässigkeit des Grenzregimes spricht Bände. Auf der einen Seite werden aktiv Arbeitskräfte anderenorts angeworben, um im Dienstleistungssektor, ob an Flughäfen oder in der Pflege, zu arbeiten. Und auch hochqualifizierten Arbeitskräften ist es möglich Visa zu bekommen. Sie tragen dazu bei, den Lebensstandard der imperialen Lebensweise, zu reproduzieren. Gleichzeitig fehlen qualifizierte Arbeitskräfte anderenorts.
Die andere Seite der Medaille zeigt sich in der Enklave Melilla, wo zuletzt 37 Menschen ermordet wurden, das Mittelmeer, auf dem Tag für Tag Menschen ertrinken, sowie anhand der hochgerüsteten Grenzarchitekturen in Südosteuropa. Während sie ihre Grenzen verteidigt, zerstört die imperiale Lebensweise weiterhin die Lebensgrundlage von Abermillionen Menschen. Ob durch Enteignung, Vertreibung oder Privatisierung; was der globale Norden in seinen Grenzregionen zu Gesicht bekommt, ist nur die Spitze des Eisbergs.
Die Geister, die wir riefen…
„Dabei sind Flüchtende die Geister, die wir durch unsere imperiale Lebensweise riefen.“
Dabei sind Flüchtende die Geister, die wir durch unsere imperiale Lebensweise riefen. Der Geist der Vergangenheit ist die Zerstörung der Lebensräume anderenorts. Der Geist der Gegenwart lässt uns das Sterben an unseren Grenzen sehen. Was der Geist der Zukunft vor Augen führt, ist eine dystopisch-postapokalyptische Welt: Dürren, Überschwemmungen und Hunger. Popkulturelle Beispiele gibt es genug.
Was also einen Aktionsplan und eine Theorie der Veränderung erschwert, ist die Tatsache, dass es nicht nur nötig sein wird eine andere Regierung zu wählen oder gesellschaftliche Mehrheiten zu gewinnen, sondern dies muss einhergehen mit komplett anderen Produktions-, Distributions- und Konsumnormen. Dafür müssen nicht nur andere politische und ökonomische Bedingungen geschaffen werden, sondern insbesondere neue, nicht imperiale kulturelle Vorstellungen des guten Lebens müssen etabliert werden.
Genese einer neuen Lebensweise?
„Die Geister der imperialen Lebensweise klopfen bereits an unseren Pforten. Wir müssen uns also fragen: Sind wir bereit für eine kulturelle Revolution, die die Grundfesten unserer Lebensweise erschüttert und die neu bestimmen muss, was ein gutes Leben bedeutet? „
Brand und Wissen zeigen in ihrer Theorie auch auf Akteur:innen, die uns einen Weg in eine solidarische Lebensweise deuten können. Denn nach ihnen ist es nicht der Staat, sondern es sind die vielfältigen sozialen Bewegungen, die einen solchen Wandel anschieben können. Hier kann ein Aktionsplan für die No-Border-Bewegung anschließen. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass das Konzept der imperialen Lebensweise aufzeigt, wie Menschen im globalen Norden von der imperialen Lebensweise profitieren. Dementsprechend verteidigen in Deutschland nicht nur reaktionäre Bewegungen diese Privilegien und greifen dabei implizit oder explizit auf einen kulturellen Rassismus zurück, nein, auch andere gesellschaftliche Gruppen arbeiten daran, die hegemoniale Rolle Deutschlands sogar noch auszubauen.
Die Geister der imperialen Lebensweise klopfen bereits an unseren Pforten. Wir müssen uns also fragen: Sind wir bereit für eine kulturelle Revolution, die die Grundfesten unserer Lebensweise erschüttert und die neu bestimmen muss, was ein gutes Leben bedeutet? Die US-amerikanische Filmkomödie „Die Geister, die ich rief …“ endet als der Hauptdarsteller vom Geizhals zum gönnerhaften Menschenfreund wird. Ob wir ein positives Ende erleben dürfen und es schaffen unsere imperiale Lebensweise in eine solidarische zu transformieren, wird sich zeigen. Meinung
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