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David Legrand © privat, Zeichnung MiG

Selektion im Bildungssystem

Gleiche Kompetenzen, ungleiche Chancen

Das Schulsystem ist diskriminierend. Die Chance eines Schülers aus einer Akademikerfamilie eine Gymnasialpräferenz zu erhalten, ist 5,18-mal so hoch wie die eines Arbeiterkindes. Das ist untragbar.

Von Montag, 23.05.2022, 19:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 23.05.2022, 16:16 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Dass das Schulsystem selektiv ist und soziale Ungleichheiten reproduziert, ist spätestens seit der Veröffentlichung der PISA-Studien in den 2000er Jahren bekannt. Dass sich an den Gegebenheiten bisweilen nichts geändert hat, ist nicht nur frustrierend, sondern gesellschaftlich untragbar.

Ebenso wenig tragbar sind die Ergebnisse der IGLU-Studien, denen zufolge, Kinder aus Nichtakademikerfamilien weitaus seltener eine Gymnasialpräferenz ausgesprochen bekommen als Kinder aus Akademikerfamilien. Das ist basierend auf den Ergebnissen der PISA-Studien noch nicht verwunderlich. Bedenklich ist vielmehr, dass auch bei gleichen Kompetenzen diese Diskrepanz ausgeprägt ist.

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Die Wahrscheinlichkeit eine Gymnasialpräferenz bei gleichen Kompetenzen ausgesprochen zu bekommen, ist für Akademikerkinder gegenüber Nichtkademikerkindern deutlich höher. Weisen Kinder dieselben Fähigkeiten auf, entscheidet der sozioökonomische Hintergrund über eine Gymnasialpräferenz.

„Die Entscheidungsmacht der Lehrkräfte prägt die weitere Schullaufbahn, das Erwerbsleben – ja das gesamte Leben.“

Warum ist das so? Entscheidungsgrundlage sind keine objektiven, sondern subjektive Kriterien. Die Entscheidungsmacht der Lehrkräfte prägt die weitere Schullaufbahn, das Erwerbsleben – ja das gesamte Leben. Zentral für diese Entscheidungen sind Vorstellungen über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des künftigen Kompetenzerwerbs des Kindes. Jeder hat Vorstellungen über gesellschaftliche Gegebenheiten. Dabei ist es schwierig, sich neue Vorstellungen zu machen oder vorhandenen zu verändern.

Wenn der Lehrer sich nicht vorstellen kann, dass sein Schüler das Potenzial hat, an der weiterführenden Schule zu bestehen, spricht er auch nicht die Präferenz für ein Gymnasium aus. Das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer wird entsprechend der Vorstellungen über Potenziale und Nichtpotentiale geprägt. Dies führt dazu, dass Leistungspotentiale nicht ausgeschöpft werden.

Chancengleichheit verringert sich weiter

Der Vergleich zu früheren Studien zeigt, dass ein konstant hoher Zusammenhang zwischen der sozioökonomischen Herkunft der Schüler und den Schullaufbahnpräferenzen herrscht. Der Vergleich zu den Ergebnissen der IGLU-Studien von 2001 und 2006 mit denen von 2016 zeigt, dass sich die Chancen, eine Gymnasialpräferenz ausgesprochen zu bekommen, für Kinder von Nichtakademikern gegenüber Akademikerkindern, bis heute weiter verringert haben.

Der durchschnittliche kritische Wert für eine Gymnasialempfehlung ist im Gegensatz zu früheren Erhebungen gesunken. Seit 2001 ist der Wert von ca. 580 auf 562 gesunken. Allerdings hat diese Reduktion nicht zu einer Verringerung von Chancenungleichheiten geführt. Gegenteiliges ist eingetreten. Lag der kritische Wert für die Gymnasialpräferenz 2001 für die oberste Berufsgruppe bei 551, sank er bis 2016 auf 518. Gleichzeitig stieg der kritische Wert bei Kindern von Nichtakademikern von 601 im Jahr 2001 auf 620 im Jahr 2016.

„Die Chance eines Schülers aus einer Akademikerfamilie eine Gymnasialpräferenz zu erhalten, ist heute 5,18-mal so hoch wie die eines Arbeiterkindes.“

Die Chance eines Schülers aus einer Akademikerfamilie eine Gymnasialpräferenz zu erhalten, ist heute 5,18-mal so hoch wie die eines Arbeiterkindes. Die Zahlen zeigen, wie sich die Chancenungleichheiten im schulischen Kontext weiter verschärfen – trotz mittlerweile klarer Erkenntnisse darüber, dass über Misserfolg und Erfolg im Schulsystem der sozioökonomische Status des Kindes beziehungsweise des Elternhauses ein entscheidender Faktor ist, hat sich über die Jahre nichts entscheidendes verändert, um diese Entkopplung zumindest zu reduzieren.

Dieses diskriminierende Verhalten gegenüber sozioökonomisch benachteiligten Kindern ist dabei nicht nur dem Kind gegenüber zu verurteilen – man beraubt sich auch gesamtgesellschaftlich betrachtet vieler Potenziale. Diese Selektionen nach „befähigt“ und „nicht-befähigt“ haben weit reichende Folgen für den weiteren Schulverlauf der Kinder. Jugendliche, die eine höhere Schule besuchen, erreichen bei gleicher Ausgangskompetenz mit der Zeit in der Regel einen höheren Leistungsstand.

Für die Verringerung des Zusammenhangs zwischen dem sozioökonomischen Hintergrund und dem Schulerfolg sind die Vorstellungen der Lehrkräfte über Potenziale der Schüler ein nicht unerheblicher Faktor. Wenn nicht einmal der Lehrer an den Schulerfolg seines Schülers glaubt, wird dieser auch nur schwerlich selbst daran glauben. Wenn der Glaube an die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten fehlt, werden sie auch nicht ausgebildet werden können. Meinung

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