Alina Lyapina, Flucht, Migration, Flüchtlinge, Integration
Alina Lyapina © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Geflüchtete richtig verteilen

Matching für kommunale Aufnahme

Geflüchtete werden nach Wirtschaftskraft und Einwohnerzahl der Länder verteilt. Wichtiger sind aber die Kapazitäten der Kommunen und die Bedarfe der Menschen. Ein Vorschlag.

Von und Montag, 11.04.2022, 19:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 11.04.2022, 15:24 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Seit dem 24.Februar 2022 sind über 4 Millionen Menschen in Folge des russischen Angriffskrieges aus der Ukraine in die Nachbarstaaten geflohen und insgesamt 10 Millionen wurden bereits vertrieben. Dies stellt eine große Herausforderung für das europäische Asyl- und Migrationssystem dar und erfordert ein beispielloses Ausmaß an Koordinierung auf der nationalen und europäischen Ebene. Mit der Aktivierung der EU-Richtlinie zum EU-weiten temporären Schutz und dem 10-Punkte-Plan der Kommission hat die EU einen Grundstein für eine bessere europäische Koordinierung insbesondere bei einer solidarischen Aufnahme der Geflüchteten gelegt.

Während die Richtlinie einen gleichwertigen Schutzstatus für die ukrainischen Geflüchteten in allen EU-Mitgliedstaaten gewährt und eine selbstständige Weiterreise ermöglicht, bietet der 10-Punkte-Plan zum ersten Mal ein ganzheitliches Konzept zur Bewältigung der Herausforderungen in der EU-Migrationspolitik, in dem er eine Kombination aus Informationsaustausch, Koordination der Logistik und Aufnahme durch eine Solidaritätsplattform sowie weitreichende Finanzierungsmöglichkeiten vorsieht.

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Trotz des richtigen Vorstoßes beobachtet man bereits jetzt erhebliche Mängel in der tatsächlichen Umsetzung der Koordination. Eine schnelle Entlastung von Nachbarländern und bestimmten Großstädten auf den Hauptfluchtrouten wird immer nötiger, doch die EU-weite Umverteilung stockt und es fehlt an ausgearbeiteten Umsetzungsplänen. Eine der Gründe dafür ist: Die Kommunen, die in direktester Weise mit der Aufnahme der Geflüchteten befasst sind, werden unzureichend bei Umverteilungsvorhaben und der Finanzierung der Aufnahme einbezogen.

Wie könnte eine effektive Umsiedlung im Interesse der Schutzsuchenden innerhalb der EU aussehen?

„Die Verteilung von Geflüchteten erfolgt nach dem ‚Königsteiner Schlüssel‘, der sich lediglich nach der Wirtschaftskraft und den Einwohnerzahlen der Länder richtet. Das hat dazu geführt, dass Geflüchtete 2015 bis 2016 oft in Kommunen mit hohen Arbeitslosenquoten aufgenommen wurden. Dies hat ihre Chancen auf Integration verschlechtert.“

In dieser Frage ist es wichtig, einen Rückblick auf die bisherigen Erfahrungen in der Umverteilung von Geflüchteten in Europa zu werfen, vor allem auf die Umverteilung syrischer Schutzsuchenden auf die deutschen Kommunen 2015. Damals wie heute erfolgt die Verteilung von geflüchteten Menschen in Deutschland nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel, der sich lediglich nach der Wirtschaftskraft und den Einwohnerzahlen der Länder richtet. Das hat nach Einschätzungen von Experten dazu geführt, dass die Geflüchteten 2015 bis 2016 „überdurchschnittlich oft“ in strukturell schwachen Kommunen mit hohen Arbeitslosenquoten aufgenommen wurden. Dies hat in Folge ihre Chancen bei der Jobsuche und somit auf Integration in ihre neue Lebensrealität insgesamt verschlechtert.

Um die Aufnahme und die Integration der Geflüchteten aus der Ukraine nachhaltiger und langfristig erfolgreicher zu gestalten, sollte die staatliche Verteilung auf diese blinden Flecken eingehen und auch solche Kriterien wie kommunale Infrastruktur, Wohnungs- und Arbeitsmarkt sowie Sprachangebote berücksichtigen. In Europa gibt es viel Aufnahmebereitschaft, auch von Städten und Kommunen, doch um zu verstehen, welche Kriterien genau dabei eine wichtige Rolle spielen, und um die kommunalen Kapazitäten und Möglichkeiten besser einschätzen zu können, sollten die Kommunen selbst in den Umsiedlungsprozess mit einbezogen werden.

„Genauso wie die Kommunen haben Schutzsuchende wenig Mitsprachemöglichkeiten bei der Aufnahme und Verteilung. Oftmals erfahren sie selbst erst am Tag der Umsiedlung, in welche Kommune sie umverteilt werden.“

Genauso wie die Kommunen haben schutzsuchende Personen wenig Mitsprachemöglichkeiten bei der Aufnahme und Verteilung. Oftmals erfahren sie selbst erst am Tag der Umsiedlung, in welche Kommune sie umverteilt werden. Zudem fehlen ihnen auch Kenntnisse und Informationen über die kommunalen Angebote und Aufnahmebereitschaft. Ein wichtiger Unterschied zu 2015 besteht allerdings darin, dass die Menschen mit dem temporären Schutz aktuell die Möglichkeit haben, frei zu entscheiden, wo sie sich innerhalb der EU aufhalten wollen. Wenn die Bedingungen in der über den Königsteiner Schlüssel zugewiesenen Kommune für die Menschen nicht passen, können sie also in einen anderen EU-Mitgliedstaat weiterziehen. Mit anderen Worten, die Menschen auf der Flucht brauchen nicht einfach nur Transportmöglichkeiten in weitere Länder, sondern konkrete Perspektiven, wo sie unter welchen Bedingungen unterkommen können und was sie in der jeweiligen Kommune erwartet.

Darauf setzt unser Matching-Vorschlag, der aufnahmebereite Kommunen und an der Umsiedlung interessierte Schutzsuchende aus der Ukraine zusammenbringen soll.

Matching: eine individualisierte und bedarfsorientierte Aufnahme

Matching als Konzept und Verfahren wurden bereits in unterschiedlichen Kontexten artikuliert und im migrationspolitischen Bereich verwendet. Wir bauen darauf auf und schlagen im deutschen Kontext vor, die Vielfalt der Kommunen und Schutzsuchenden stärker für ein Matching oder eine „Passung“ zu nutzten, anstatt die Umsiedlung immer nur von „oben“ abzuwickeln. Konkret braucht es ein innovatives Matching-Modell für eine individualisierte und differenzierte Aufnahme von Geflüchteten, das die zahlreichen deutschen aufnahmebereiten Kommunen mitgestalten können.

„Unser Vorschlag besteht deshalb darin, bei der weiteren Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine eine digitale Matching-Plattform einzurichten, bei der Kommunen sehr konkret angeben können, wie viele Aufnahmekapazitäten sie aktuell haben, unter welchen Bedingungen und welche Angebote es aktuell in der Kommune gibt.“

Unser Vorschlag besteht deshalb darin, bei der weiteren Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine eine digitale Matching-Plattform einzurichten, bei der Kommunen sehr konkret angeben können, wie viele Aufnahmekapazitäten sie aktuell haben, unter welchen Bedingungen und welche Angebote es aktuell in der Kommune gibt. Über diese Plattform können sich interessierte Geflüchtete über die verschiedenen Kommunen informieren und mit einer „Wunschkommune“ gepaart werden.

So ein Matching-Verfahren zwischen den deutschen aufnahmebereiten Kommunen und den Schutzsuchenden aus der Ukraine soll mit Hilfe von einer Partnerorganisation vor Ort in einem betroffenen Nachbarland wie zum Beispiel Polen stattfinden. Idealerweise soll diese Partnerorganisation eine NGO sein, die bereits im engen und direkten Kontakt mit Geflüchteten steht und deswegen in dem Matching-Verfahren eine Vermittlerrolle zwischen den Kommunen und den interessierten Personen spielen kann.

Nachdem die Städte und Gemeinden im ersten Schritt ihr Profil inklusive konkreter Anzahl von zur Verfügung stehenden Plätzen, anderer Angebote (Unterbringung, Kita- und Schulplätze, Arbeitsmöglichkeiten, Deutschkurse, ehrenamtliche Initiativen) und Bedarfe (beispielsweise in welchen Berufen es Mangel gibt) auf der Online-Plattform hochgeladen haben, schaltet sich die Partnerorganisation ein und klärt die Geflüchteten aus der Ukraine über den Matching-Prozes auf. Die an der Umverteilung interessierten Menschen können dabei sogar mit Unterstützung der Partnerorganisation vor Ort die Angebote der Kommunen filtern, je nachdem ob sie in einem Bundesland Verwandte haben, ob sie lieber Stadt oder Land präferieren, ob sie eine Kita brauchen usw. Aus den gefilterten Treffern können die Menschen dann gemeinsam mit der betreuenden Organisation einen „Platz“ bei der ausgesuchten Kommune blockieren und die Kommunikation über die Einzelheiten der Umsiedlung aufnehmen.

„Stärkere Einbindung von Kommunen sorgt für eine nachhaltigere und dadurch effektive Umverteilung: Kommunen können lokale Aufnahmekapazitäten und Bereitschaft besser einschätzen, denn die tatsächliche Aufnahme von Geflüchteten, ihre Versorgung, Zugang zu eigenem Wohnraum, Einbindung durch Bildung, Arbeit, soziale und kulturelle Teilhabe erfolgen schließlich vor Ort.“

Eine Matching-Plattform bietet mehrere Vorteile, unter anderem, dass die Kommunen nicht nur bei der Gestaltung aktiv werden, sondern auch die Vergabe der gematchten Plätze direkt mitverwalten können. Stärkere Einbindung von Kommunen sorgt für eine nachhaltigere und dadurch effektive Umverteilung: Kommunen können lokale Aufnahmekapazitäten und Bereitschaft besser einschätzen, denn die tatsächliche Aufnahme von Geflüchteten, ihre Versorgung, Zugang zu eigenem Wohnraum, Einbindung durch Bildung, Arbeit, soziale und kulturelle Teilhabe erfolgen schließlich vor Ort.

Individuelle Bedarfe und Interessen der Geflüchteten werden durch so ein Passungsverfahren ebenfalls stärker berücksichtigt als beim aktuellen Königsteiner Schlüssel. Dank der Zusammenarbeit mit der Partnerorganisation vor Ort, die den Geflüchteten dabei helfen würde, eine bewusste und durchdachte Entscheidung zu treffen, würden starke Anreize geschaffen, um in der ausgewählten Kommune Fuß zu fassen. Das Matching würde also auf dieser Weise zur Nachhaltigkeit der Umsiedlung beitragen und eine erfolgreiche Integration befördern.

Darüber hinaus könnte so ein Matching-Mechanismus zwischen den deutschen Kommunen und den Schutzsuchenden, die sich in Polen aufhalten, skaliert und für die Aufnahme aus Moldawien und anderen betroffenen Staaten über eine Luftbrücke oder in Ergänzung zum Königsteiner Schlüssel auch für die Verteilung innerhalb Deutschlands angewendet werden.

Die von der EU-Kommission angekündigte europaweite Umsiedlung von der Schutzsuchenden aus der Ukraine kann in ähnlicher Weise von bedarfsorientierten Ansätzen profitieren. Sollte diese nach dem 10-Punkte-Plan weiterhin über die EU-Solidaritätsplattform koordiniert werden, so könnte der vorgeschlagene Matching-Mechanismus ein wichtiger Bestandteil der Umsetzung werden.

Wie könnte so ein Matching-Mechanismus finanziert werden?

Für die Aufnahme und Versorgung der Geflüchteten aus der Ukraine stellt die EU über 400 Millionen Euro aus den restlichen Mitteln des 2014-2020 EU-Budgets und dem aktuellen AMIF-Fonds zur Verfügung. Falls das Matching-Verfahren für die Umsiedlung auf der EU-Ebene angewendet werden soll, so könnten bereits bei der weiteren Koordinierung der Finanzierung aus den bereits versprochenen oder zusätzlichen EU-Finanzmitteln noch kurzfristig direkte Finanzierungsprogramme für stark betroffene und insbesondere für die am Matching-Mechanismus beteiligten Kommunen eingerichtet werden. Eine unkomplizierte und unbürokratische Vergabe von Mitteln aus solchen Finanzierungsprogrammen wäre dabei für die ohnehin belasteten Kommunen von zentraler Bedeutung. Meinung

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