Clemens Becker, Migazin, Sprache, Linguistick, Integration, Rassismus, Diskriminierung
Clemens Becker © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Linguizismus

Ich höre, wie du sprichst, und weiß dann, wer du bist …

Sprechweisen sind ebenso wie das äußere Erscheinungsbild Diskriminierungsgegenstand – in Form von linguistischem Ethnozentrismus oder Linguizismus

Von Donnerstag, 17.03.2022, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 16.03.2022, 21:31 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Eine Anekdote aus einem Buch von Guy Deutscher mit einem Engländer, einem Franzosen und einem Deutschen veranschaulicht eindrucksvoll eine unterschwellige Haltung, die eine einseitige Wahrnehmung der eigenen Sprache offenbart.

Jeder von ihnen argumentiert, dass seine Sprache die beste sei. Der Deutsche bringt vor, dass seine Sprache die Sprache der Logik und der Philosophie ist. Der Franzose kontert, dass alle Feinheiten der Romantik auf Französisch ausgedrückt werden können. Der Engländer entgegnet daraufhin, man solle doch das Wort „spoon“ näher betrachten. Er meint, die Franzosen sprechen von „cullière“, die Deutschen von einem „Löffel“, aber bei ihnen sei es einfach ein „spoon“.

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Ethnozentrismus? Die Definition von Ethnozentrismus durch den Urheber dieses Begriffes, William G. Sumner: „die fachliche Bezeichnung für eine Sicht, bei der die eigene Gruppe im Zentrum von allem steht und alle anderen in Bezug auf sie skaliert und bewertet werden“.

Die Aussage des Engländers ist natürlich als Beispiel zu verstehen – sie könnte von jedem beliebigen Menschen stammen. Doch was ist hier geschehen? Die Argumentation des Engländers ist absurd, so viel ist klar. Weder ein „spoon“ noch ein „cullière“ haben etwas inhärent mit einem Löffel zu tun, der deutsche Löffel selbst auch nicht. Die Begriffe sind vollkommen willkürlich, und die deutschen und französischen Begriffe sind genauso gut wie der englische. Aber es sagt etwas aus über die Wahrnehmung der eigenen Sprache, und zwar nicht nur der eigenen Sprache, sondern von allem, was vertraut ist und sich von Unbekanntem abhebt. Sie offenbart einen gewissen Egozentrismus in Bezug auf das, was man kennt und was nicht. Bekanntes ist der Standard, an dem alles andere gemessen wird. Kurzum: Es handelt sich um einen linguistischen Ethnozentrismus, vereinfacht ausgedrückt einen „Rassismus light“.

Das gegebene Beispiel eines linguistischen Ethnozentrismus ist fiktiv. Doch auch reale Fälle gibt es viele, so zum Beispiel gegenüber Sprechweisen, die offensichtlich nicht der gewöhnliche, typisch deutsche Sprech sind. Die Rede ist von einem Ethnolekt. Ein Ethnolekt ist zunächst das, was ein Dialekt auch ist – nämlich eine Art zu sprechen, die aus einer Standardsprache hervorgeht. Doch ist er nicht wie ein Dialekt eine regionale, sondern eine ethnisch bedingte Sprechweise, die vor allem von türkischstämmigen jungen Menschen aus Großstädten genutzt wird und von diesen, aber auch von anderen mit dem Nicht-deutschen in Verbindung gebracht wird. Das bekannteste Beispiel eines deutschen Ethnolekts ist das Kiezdeutsche. Geläufig, ja schon fast berüchtigt sind Formulierungen, in welchen Pronomen, die Präposition oder der Artikel fehlen, wie in „Lass _ _ Park gehen“ oder „Ich nehme _ Bus“. Bei Letzterem wird das „Ich“ wie so typisch für Kiezdeutsch mit einem „sch“ ausgesprochen.

„Ein linguistischer Ethnozentrismus lässt sich erkennen, wenn behauptet wird, das Kiezdeutsche sei Folge eines vernachlässigten Deutschunterrichts. Ähnliches ist der Fall, wenn Lehrkräfte in Schulklassen verlangen, das Standarddeutsche zu verwenden.“

Ein linguistischer Ethnozentrismus lässt sich erkennen, wenn behauptet wird, das Kiezdeutsche sei Folge eines vernachlässigten Deutschunterrichts. Ähnliches ist der Fall, wenn Lehrkräfte in Schulklassen verlangen, das Standarddeutsche zu verwenden. Sie fordern also beispielsweise, Präpositionen auszusprechen. Dabei ignorieren sie, dass die Sprechweise Kiezdeutsch ebenso wie ein Dialekt der Lebenswelt der jungen Menschen entspringt, sie aber ganz genauso ohne Weiteres in die Standardsprache wechseln können. Letzteres wird klar, wenn man bedenkt, dass die Sprechenden den Ethnolekt nur unter sich nutzen. Kommt dann eine außenstehende Person hinzu, die kein Kiezdeutsch spricht, nutzen sie automatisch die deutsche Standardsprache.

Der Ethnolekt fungiert also als Konstrukt der Gruppenzugehörigkeit und als ein bestimmter Code innerhalb einer Gruppe. Das ist zum einen ein interessanter Aspekt, zum anderen zeigt er aber darüber hinaus, dass Kiezdeutsch kein Frevel an der deutschen Sprache ist, sondern Ausdruck einer multilingualen Gesellschaft.

„Sprechweisen wie der Ethnolekt Kiezdeutsch können neben einem Ethnozentrismus allerdings auch einer handfesten Diskriminierung begegnen.“

Sprechweisen wie der Ethnolekt Kiezdeutsch können neben einem Ethnozentrismus allerdings auch einer handfesten Diskriminierung begegnen. In Anlehnung an den Begriff Rassismus können nach der Sprachwissenschaftlerin Skutnabb-Kangas alle linguistischen Diskriminierungen dem Linguizismus, einer Diskriminierungsform mit Sprache als Bezugsgegenstand, zugeordnet werden. Das geschah auf strukturelle Weise, zum Beispiel beim Kurdischen, das bis vor einigen Jahren in der Türkei verboten war. Doch auf individueller Ebene kann das ebenso passieren, und zwar ganz aktuell.

Wie tief verwurzelt solch ein Linguizismus in Alltag und in Medien vertreten ist, wird klar durch Reaktionen auf die Miniserie „Ehrenpflegas“ des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Serie sollte jungen Menschen Pflegeberufe schmackhaft machen. Ihr wurde jedoch mit viel Häme begegnet, auch aufgrund flacher Witze und irreführender Darstellungen von Pflegeberufen, was die Zielgruppe sicherlich nicht animiert, eine Karriere im Pflegebereich zu beginnen. Um das soll es hier allerdings nicht gehen, sondern vorrangig um den Titel und um das, was daraus gemacht wurde:

„Das Kiezdeutsche wird negativ mit „Ghetto-Spielplätzen“ und einer trivialen Suche nach einer intimen Beziehung assoziiert, indem das charakteristische Auslassen der Präposition „zur“ innerhalb des gleichen Kontextes bewusst aufgegriffen wird.“

Die Bildung des Plurals mit -s ist Merkmal der deutschen Sprache. Da die Verwendung des Plural-s in „Ehrenpflegas“ aber in diesem Zusammenhang nicht den Regeln entsprechend ist und diese Pluralbildung außerdem in einer Datenbank zum Kiezdeutschen auftaucht, kann sie mit dem Kiezdeutschen in Verbindung gebracht werden. Ähnliches gilt für den Wortteil „Ehren-“. Es hat seinen Ursprung in dem Jugendslang „Ehrenmann“ und wird somit womöglich mit dem ebenfalls jugendlich geprägten Kiezdeutsch gedanklich verknüpft. Ob beides nun tatsächlich der Fall ist oder nicht, ist hier nicht weiter von Belang. In Reaktionen auf die Serie werden „Ehren-“ und „-pflegas“ zweifellos mit dem Kiezdeutschen assoziiert, und das auf spöttisch-linguizistische Weise:

Der Titel „Ehrenpflegas“ suggeriert doch, dass man irgendwo auf Ghetto-Spielplätzen zukünftige Pflegeazubis einsammelt mit den Worten „Ey Bruder, kommst du [zur] Krankenpflegeschule? Da sind die geilsten Chics

Das Kiezdeutsche wird negativ mit „Ghetto-Spielplätzen“ und einer trivialen Suche nach einer intimen Beziehung assoziiert, indem das charakteristische Auslassen der Präposition „zur“ innerhalb des gleichen Kontextes bewusst aufgegriffen wird. Eine weitere Reaktion knöpft sich sowohl den „isch“-Laut als auch die Endung vor:

Ey du Pflega, binnisch meine Ehre oda was?

Die zwei beschriebenen Echos stehen nicht allein da. Auch die Sendung heute-show machte sich kürzlich das Stereotyp, das dem Kiezdeutschen anhängt, zunutze. In einem satirischen Pseudo-Ratgeber, der eingespielt wurde, beschreibt „Sparfuchs Larissa“ ihren Umgang mit der aktuell vorherrschenden Inflation, welcher aber als dümmlich, moralisch fragwürdig und hedonistisch präsentiert wird. Dabei lässt die Darstellerin kaum eine Gelegenheit aus, den „isch-Laut“ zu verwenden.

„Doch bedenke man dabei, welche Gefühle in einem selbst entständen, würde die unverwechselbare deutsche Aussprache des englischen „th“ permanent ins Lächerliche gezogen werden, bis es sich zu einem gesellschaftlich akzeptierten Stigma entwickelt hat.“

Was sind die möglichen Lehren aus diesen Erkenntnissen? Es gibt hier drei Gruppen. Zunächst einmal kann hinterfragt werden, ob die eigene Haltung zu Sprechweisen, die nicht dem Standarddeutschen entsprechen, von linguistischem Ethnozentrismus oder Linguizismus geprägt sind. Außerdem ist es auch überlegenswert, anderen Menschen konstruktive Kritik entgegenzubringen, wenn solche Tendenzen in Erscheinung treten. Und schließlich können natürlich alle, die Kiezdeutsch sprechen, ihre Sprechweise selbstbewusst nach außen tragen.

Es wird nun wohl erwartungsgemäß Stimmen geben, die das als elitäre Befürwortung der so häufig kritisierten Identitätspolitik abtun. Doch bedenke man dabei, welche Gefühle in einem selbst entständen, würde die unverwechselbare deutsche Aussprache des englischen „th“ permanent ins Lächerliche gezogen werden, bis es sich zu einem gesellschaftlich akzeptierten Stigma entwickelt hat. Und man spinne das weiter. Denn aus solch einer Geringschätzung können praktische Nachteile erwachsen – wie die Ablehnung nach einem Bewerbungsgespräch oder bei der Wohnungssuche. Die Spannbreite reicht von einem scheinbar harmlosen linguistischen Ethnozentrismus, über bösartig gemeinten Spott oder unverhohlene Verbote, die Sprache überhaupt zu nutzen. Es liegt nahe, dass Sprechweisen häufig alltäglicher Gegenstand von Verunglimpfungen sind. Meinung

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