Erinnerungskultur
Historikerin Wierling: „Können uns nicht an Zeitzeugen klammern“
Das Erinnern an den Holocaust verbinden viele Menschen weltweit mit denen, die die NS-Vernichtungsmaschinerie überlebt haben. Doch diese Menschen sterben nun in hohem Alter, wie etwa zuletzt die Frankfurter Holocaust-Überlebende Trude Simonsohn oder der Rabbiner Henry Brandt. Was das mit der Erinnerungskultur macht, analysiert die Berliner Historikerin und Expertin für Oral History, Dorothee Wierling, im Gespräch.
Von Franziska Hein Dienstag, 15.02.2022, 14:45 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 15.02.2022, 14:20 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Wenn Zeitzeugen sterben, leidet die Erinnerungskultur. Stimmt das?
Dorothee Wierling: Die Erinnerungskultur verändert sich, ja. Die Frage ist, was sich genau verändert und ob das nur gefährlich oder bedauerlich ist.
Was sind Zeitzeugen?
Zeitzeugen sind wir alle. Auch diejenigen, die 1968 an studentischen Protesten teilnahmen, oder diejenigen, die den Mauerfall erlebten. Der Begriff, um den es bei der Klage über den „Tod der Zeitzeugen“ geht, meint aber einen ganz bestimmten Typus des Zeitzeugen und ist vor allem aufgeladen mit einer Figur. Das ist die Figur, die die Zeitgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verkörpert, die Zeugen des Holocaust und des Weltkrieges.
Was ist es, was uns an diesen Zeitzeugen mehr interessiert als an anderen?
„Wir können uns nicht daran klammern, dass wir sie brauchen und dass wir uns ohne sie nicht adäquat mit der Geschichte auseinandersetzen können.“
Das hängt offensichtlich mit dem historischen Auftrag zur Erinnerung an die Verbrechen zusammen, aber wohl auch damit, dass wir als Nachkriegsgesellschaft dem Faszinosum der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erliegen. Diese Gewaltgeschichte ruft ganz starke Gefühle hervor, während unsere eigene Nachkriegsgeschichte dagegen absolut trivial ist. Die Zeitzeugen der 68er-Generation oder der Wende sind offenbar für uns noch nicht so interessant.
Was macht die Wirkung der Zeitzeugenberichte aus?
Die Zeitzeugen, über die wir sprechen, die Überlebenden, haben in ihrer körperlichen Präsenz eine unglaubliche Aura, weil sie im Wortsinne diese Verbrechen verkörpern. Auch ich erliege dem.
Gleichzeitig finde ich, man muss diese Menschen jetzt auch in Ruhe sterben lassen. Das haben sie verdient. Wir können uns nicht daran klammern, dass wir sie brauchen und dass wir uns ohne sie nicht adäquat mit der Geschichte auseinandersetzen können.
Ich möchte die Bedeutung der Überlebenden nicht kleinreden, weil die Tatsache, dass sie uns an ihrer Geschichte teilhaben lassen, auch ihren Wert verdeutlicht. Aber wir müssen uns auch selbst fragen, ob wir unsere Erinnerungspraxis wirklich davon abhängig machen wollen.
„In Los Angeles gibt es ein Projekt, in dem versucht wird, aus Zeitzeugen-Interviews Avatare zu erzeugen, mit denen eine Interaktion möglich ist. Ich finde das befremdlich.“
Ich finde es wichtig, die Zeitzeugen zu ehren und es ist Ausdruck meiner Achtung vor ihnen, dass ich sie nicht nur als unverzichtbare Quelle sehe.
Was halten Sie von Versuchen, Zeitzeugen zu ersetzen?
Ich finde es kurios, wenn Zeitzeugen „ersetzt“ werden, etwa durch Schauspieler, die ihre Rollen in Spielfilmen verkörpern. Der Wunsch nach Aura und Authentizität treibt an der Stelle Blüten, die wir reflektieren müssen. In Los Angeles gibt es ein Projekt, in dem versucht wird, aus Zeitzeugen-Interviews Avatare zu erzeugen, mit denen eine Interaktion möglich ist. Ich finde das befremdlich.
Zielgruppe sind vor allem Jugendliche, aber man muss auch denen erklären, dass diese Menschen nicht künstlich am Leben gehalten werden können und dass sich ihre Geschichte auch auf andere Weise vermitteln und nachvollziehen lässt. Es verändert sich etwas durch den Tod des Zeitzeugen, aber das müssen wir akzeptieren und können das nicht durch Tricks hinauszögern.
Die Emotion ist der Zugang für die Kinder und Jugendlichen zum Verständnis des Unrechts. Geht das dann nicht zwangsläufig verloren?
Wir haben eine Fülle von Interviews, teilweise schon aus der Zeit kurz nach der Befreiung der Konzentrationslager. Das ist natürlich etwas anderes, als wenn eine solche Person direkt im Raum ist. Aber aus eigener Erfahrung wissen wir, dass wir auch emotional reagieren, wenn wir eine dramatische Geschichte beispielsweise im Kino sehen. Ich sage nicht, dass das dasselbe ist oder dass Emotionen nicht wichtig sind.
„Unsere Aufgabe als Erwachsene, Erzieher und Lehrerinnen ist es, offenzubleiben für diesen Schrecken und das in der Pädagogik weiterzugeben. Das ist auch unsere generationelle Aufgabe.“
Es ist elementar, die Geschichte des Holocaust auch intensiv emotional aufzunehmen. Ich glaube, wir sind dazu fähig, solange wir überhaupt fühlende Wesen sind. Unsere Aufgabe als Erwachsene, Erzieher und Lehrerinnen ist es, offenzubleiben für diesen Schrecken und das in der Pädagogik weiterzugeben. Das ist auch unsere generationelle Aufgabe.
Wird die Bedeutung von Gedenkstätten in Zukunft noch größer?
Das ist ganz bestimmt so. Das sind authentische Orte, obwohl man das Wort „authentisch“ in Anführung setzen muss. Denn diese Orte werden immer auch überarbeitet, bevor aus ihnen Gedenkstätten werden. Das finde ich aber nicht schlimm. Den Eindruck, den man etwa bekommt, wenn man in Buchenwald oder Auschwitz ist, verdeutlicht ganz viel. Mich haben beispielsweise in der alten Ausstellung in Auschwitz die Haufen von Schuhen oder Brillengestellen der Ermordeten beeindruckt. Diese Gegenstände zeigen die Massenhaftigkeit an und gleichzeitig die Individualität. Die persönlichen Abnutzungen an diesen Gegenständen verweisen auf das Individuum. Diese Orte müssen erhalten und gepflegt werden. Sie funktionieren auch dann noch, wenn die Zeitzeugen nicht mehr da sind. (epd/mig) Aktuell Feuilleton Interview
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