Wahlen

Wege aus dem Demokratiedefizit

Am 26. September 2021 finden Wahlen statt. Millionen Menschen sind auch dieses Mal vom zentralen Instrument demokratischer Teilhabe ausgeschlossen. Das ist nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem.

Von und Mittwoch, 08.09.2021, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 20.12.2021, 13:13 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Wenn Ende September 2021 der Deutsche Bundestag neugewählt wird, verfügen etwa zehn Millionen Volljährige über kein Stimmrecht – und zählen auch sonst nicht mit. Zum einen besitzen bei Landtags- und bei Bundestagswahlen nur deutsche Staatsangehörige aktives und passives Wahlrecht. Dies schließt etwa 14 Prozent der Bevölkerung vom zentralen demokratischen Mitsprache-Instrument aus. Zum anderen regelt das Bundeswahlgesetz, dass selbst beim Zuschnitt der Wahlkreise, der sich doch am Bevölkerungsanteil orientieren soll, ein Siebtel der Bevölkerung nicht mitzählt: „Bei Ermittlung der Bevölkerungszahlen bleiben Ausländer (…) unberücksichtigt.“

Es verwundert also kaum, dass Nicht-Deutsche für Kandidat:innen und Parteien keine attraktive „Zielgruppe“ darstellen und dass ihre Anliegen kaum zu den wichtigen Themen zählen – selbst wenn sie einen großen Teil der Bevölkerung eines Wahlkreises stellen, etwa in den Metropolregionen von Nordrhein-Westfalen, im Rhein-Main- oder im Rhein-Neckar-Gebiet oder in Hamburg. Selbst bei Deutschen mit „Migrationshintergrund“ – leider nach wie vor das einzige erhebbare Merkmal – sieht es mit der Repräsentation eher schlecht aus: Im Bundestag verfügt nicht einmal ein Zehntel der Abgeordneten darüber.

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Ein grundlegendes Problem

„In Berlin ist, rechnet man die Nicht-Deutschen und die Minderjährigen zusammen, ein Drittel der Bevölkerung von demokratischer Mitbestimmung ausgeschlossen – und zwar auch bei den Instrumenten direkter Demokratie.“

Dieses Problem stellt zunehmend die Grundfesten des Regierungssystems infrage. In Berlin ist, rechnet man die Nicht-Deutschen und die Minderjährigen zusammen, ein Drittel der Bevölkerung von demokratischer Mitbestimmung ausgeschlossen – und zwar auch bei den Instrumenten direkter Demokratie. Während gesellschaftlich die Tendenz zu mehr Mitbestimmung geht, lässt sich zugleich für nicht-deutsche Teile der Bevölkerung konstatieren, dass sie weiter von der formalen Teilhabe abgehängt werden.

Bisher gab es in Deutschland überhaupt nur zwei Wahlen, bei denen Nicht-Deutsche stimmberechtigt waren: bei den Kommunalwahlen im März 1989 und im Mai 1990 in der DDR. Alle Versuche, in der BRD bzw. nach der Vereinigung in ganz Deutschland ein Wahlrecht für Nicht-Deutsche wenigstens auf Kreis- und Gemeindeebene zu schaffen, sind bisher am Begriff „Volk“ im Grundgesetz gescheitert, der nach geltender Rechtsauffassung das „deutsche Volk“ meint. Eine Ausnahme stellt die Umsetzung des EU-Vertrags von Maastricht (1992) in Art. 28 des Grundgesetzes dar, wonach wenigstens Unionsbürger:innen auf kommunaler Ebene mitwählen und gewählt werden dürfen.

Ein eklatantes Demokratiedefizit

Info: Am 10. September veranstaltet das postmigrantische Netzwerk „neue deutsche organisationen“ einen digitalen Fachkongress, bei dem Expert:innen u.a. die Themen Wahlen und Teilhabe und Repräsentation von Schwarzen Menschen und People of Color gemeinsam diskutiert. Die Veranstaltung mit dem Titel „UPLOAD WIDERSTAND“ wird ab 10:30 Uhr auf dem Kanal der neuen deutschen organisationen live auf YouTube gestreamt – in deutscher und englischer Sprache.

Diese restriktive Kopplung von demokratischer Mitbestimmung und Staatsangehörigkeit wäre verkraftbar, wenn Einbürgerungen schneller und einfacher erreichbar wären, es zeigt sich jedoch, dass deren Zahl rückläufig ist, unter anderem weil die Hürden hoch sind und weil nach wie vor Mehrstaatlichkeit nur für Staatsangehörige einzelner Länder hingenommen wird. Damit werden das Ausüben elementarer Rechte, das Sprechen in eigenem Namen und die Repräsentation in öffentlichen Debatten erschwert, oft ganz unmöglich gemacht. Generationen von Menschen, die den größten Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht haben, aber auch ihre Kinder, haben noch nie an Wahlen, Volksentscheiden oder Bürgerbegehren teilnehmen können.

Deutschland leistet sich damit ein eklatantes Demokratiedefizit und übergeht die Belange von Millionen Menschen, die hier leben. Migrant:innen- und neue deutsche Organisationen weisen bereits seit Jahren darauf hin und fordern Reformen.

Passiert ist kaum etwas

Erkannt wurde das Problem auch seitens der Politik vor Jahrzehnten. Seit dem Kühn-Memorandum sind über 40 Jahre vergangen. Erleichterte Einbürgerungen, (kommunales) Wahlrecht und viele weitere Elemente einer aktiven Förderung von Teilhabe und Repräsentation wurden bereits 1978 vom ersten „Ausländer“-Beauftragten Deutschlands angemahnt. Passiert ist seitdem kaum etwas. Ein Gegensteuern ist dringend notwendig.

Ja, es braucht ein Staatsangehörigkeitsrecht, dass alle Hiergeborenen automatisch zu Deutschen macht, es braucht wesentlich schnellere, einfachere und kostengünstigere Einbürgerungsverfahren. Es braucht ein Wahlrecht auf kommunaler Ebene, aber auch ein Wahlrecht auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene – unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Die wichtigen Entscheidungen werden schließlich nicht im Kreistag getroffen.

„Die Auffassung, dass die Bevölkerung aus „Deutschen“ bestehe und dass es sich bei den anderen Hiesigen um „Gäste“ handele, die irgendwann wieder weggehen, ist weder zeitgemäß noch sinnvoll…“

Nicht mehr zeitgemäß

Ähnliche Regelungen wurden vor langem schon für Deutsche gefunden, die dauerhaft im Ausland leben. Viele Expert:innen fordern kommunales Wahlrecht für alle Personen, die ihren Lebensmittelpunkt seit mehr als drei Jahren und das Landes- und Bundeswahlrecht für alle, die seit mehr als fünf Jahren in Deutschland leben. Die Auffassung, dass die Bevölkerung aus „Deutschen“ bestehe und dass es sich bei den anderen Hiesigen um „Gäste“ handele, die irgendwann wieder weggehen, ist weder zeitgemäß noch sinnvoll für das Bestehen einer funktionierenden Demokratie. Denn das Leben der Menschen findet hier statt.

Die Zeit ist reif für einen antirassistischen Strukturwandel. Dafür ist u. a. ein Bundespartizipations- und Teilhabegesetz unumgänglich, das gleichberechtigte Teilhabe, Partizipation und Repräsentation gesetzlich verankert. Notwendig ist auch eine umfassende Antidiskriminierungspolitik. Grundlage dafür sollte ein Bundes-Antidiskriminierungsgesetz sein.

Bevölkerung besteht nicht nur aus Deutschen

Denn es ist die Aufgabe des Staates, alle Menschen vor Diskriminierungen zu schützen, bevor sie „Betroffene“ werden. Die rassistischen Ausschlüsse, die beispielsweise Schwarze Deutsche und deutsche Sinti:zze und Rom:nja erleben, verdeutlichen, dass es nicht allein der Pass oder Personalausweis ist, der über gleiche Möglichkeiten entscheidet.

Die Reformkommission des Deutschen Bundestag wird sich nach den Wahlen zwar mit „Fragen des Wahlrechts“ befassen und bis zum Sommer 2023 Empfehlungen erarbeiten, der Auftrag umfasst neben der Dauer der Legislatur und der Modernisierung der Parlamentsarbeit aber nur eine mögliche Herabsetzung des Wahlalters auf 16 und die gleichberechtigte Repräsentation von Frauen und Männern. Dass die Bevölkerung nicht nur aus „Frauen“ und „Männern“ besteht – und nicht nur aus „Deutschen“ in einem sehr eng verstandenen Sinn, müssen wir offenbar weiterhin gemeinsam an das Hohe Haus herantragen. Meinung

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  1. J-S sagt:

    Nun die „hohen Hürden“ die der Autor hier nennt sind nicht so hoch. Wen ner – wie im Artikel aufgeführt- von Menschen spricht die „jahrzentelang“ hier leben so hätten diese schon jede Menge Gelegenheiten gehabt sich um eine Deutsche Staatsbürgerschaft zu bemühen.
    Fühle ich mich hier so zugehörig das ich mitbestimmen möchte – so sollte ich auch die wenigen nötigen Anstrengungen unternehmen damit ich das darf.
    Für jeden Führerschein muss ich fast mehr Aufwand (und höhere Kosten) betreiben um ihn zu erhalten, trotzdem fahren die überwiegende Mehrzahl der Menschen hier mit dem Auto.

    Ich sehe da keine Bringschuld von uns sondern durchaus eine Holschuld der Einwanderer.

  2. Zoran Trajanovski sagt:

    Das besagt daß wir nicht gleich sind und das die Menschenwürde nicht gleich Menschenwürde bedeutet, es kommt darauf an wer sie eigentlich sind. Ab da sind wir in philosophischen Diskurs Martin Heidegger
    “ Wir sind das Volk Kraft der Entscheidung “ wo hin die 10 Mil. Menschen nicht dazu gehôren.

  3. Zoran Trajanovski sagt:

    Ein Armutszeugnis und Beweis daß Menschenwürde nicht gleich Menschenwürde bedeutet. Es kommt darauf an wer sie sind.