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MiGAZIN Kolumnist Sven Bensmann © privat, Zeichnung MiG

Nebenan

Stell dir vor, es ist Krieg, und niemand berichtet.

Das Außenministerium hat versagt, ebenso das Innen- und Verteidigungsministerium - Merkel sowieso. Aber auch die Medien haben versagt: In Afghanistan war 20 Jahre Krieg und niemand hat berichtet.

Von Dienstag, 24.08.2021, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 22.08.2021, 21:44 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Vor zwei Wochen habe ich hier bereits über Afghanistan geschrieben; darüber, dass Horst Seehofer weiter Menschen dorthin abschieben wollte, obwohl Afghanistan und Kabul in Kürze unweigerlich fallen würden.

Zu diesem Zeitpunkt war das, auch ohne Geheimdienstberichte, die mir tagtäglich auf den Tisch gelegt würden, für mich eine Selbstverständlichkeit. Selbst die Taliban haben Berichten zufolge aber nicht damit gerechnet oder geplant, Kabul so schnell einzunehmen. Sie selbst sind von den Ereignissen überrascht worden und hätten letztlich, so wird kolportiert, die Stadt einnehmen müssen, um noch größeres Chaos zu verhindern. Was dann passierte, wurde grafisch so eindringlich in den Nachrichtensendungen dargestellt, dass ich darauf hier verzichten möchte, von zerfetzten Körpern verzweifelter Menschen zu schreiben, die aus den Fahrwerken der Rettungsflugzeuge gekratzt wurden.

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Mittlerweile läuft die Aufarbeitung, und zumindest dort gibt es kaum Überraschungen: Innenminister Seehofer, der keine Afghanen nach Deutschland holen wollte, Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, oberste Dienstherrin der Bundeswehr, Kanzlerin Merkel, bei der alle Fäden zusammenlaufen, inklusive der Geheimdienste, sie alle haben nichts verkehrt gemacht. Fehler, da ist man sich einig, wurden allein vom Auswärtigen Amt und dessen Chef, Außenminister Maas, verantwortet. Der war nämlich dafür verantwortlich, dass… na ja, was eigentlich? Die Diplomaten rechtzeitig auszufliegen. Auf Basis der Fakten, die ihm von den Geheimdiensten und der Bundeswehr vorgelegt werden.

20 Jahre Krieg für nichts, außer dem jämmerlichen Bild westlicher Soldaten mit eingeklemmtem Schwanz, die vor ein paar bewaffneten Bauernlümmeln aus dem Land getrieben werden.

Und das hat er eben nicht ausreichend früh, sondern nur gerade so rechtzeitig getan. Und zumindest für die Union geht so etwas gar nicht. Alles andere, das in Afghanistan passiert ist, war jedenfalls verglichen mit dem Ausfliegen der Diplomaten demzufolge wohl Friede, Freude und Eierkuchen. Für alle anderen ist das Versagen der anderen Drei natürlich mindestens so groß, wie das von Maas. Weil der Abzug der Bundeswehr ebenso wie der der US-Truppen hochgradig chaotisch war. Weil das Innenministerium gemauert hat. Weil die Geheimdienste versagt haben. Und weil die Bundeskanzlerin in bewährter Manier gezaudert und gezögert hat, statt zu handeln.

20 Jahre Krieg für nichts, außer dem jämmerlichen Bild westlicher Soldaten mit eingeklemmtem Schwanz, die vor ein paar bewaffneten Bauernlümmeln aus dem Land getrieben werden – das wird in Erinnerung bleiben. Und Millionen Menschen, die mit denjenigen Extremisten allein gelassen werden.

Noch größer als das Versagen der Armeen ist aber wohl das der Medien. Denn jetzt, wo auch für den allerletzten Idioten klar ist, dass das Unternehmen Afghanistan von vornherein zum Scheitern verurteilt war, fällt die sogenannte Vierte Gewalt mit aller Macht über die her, die genau jetzt die Verantwortung tragen. 2001 hingegen waren die Kritiker dieses Kriegs eine Minderheit. Die deutsche und internationale Presse war stattdessen überzeugt, dass mit dem Bau von ein paar Brunnen und Mädchenschulen, sowie der großzügigen Finanzierung verschiedenster korrupter Warlords schon ein neuer Staat zu machen sei und die Taliban in Kürze verschwinden würden.

„Man kann nur vermuten, wie anders der Krieg verlaufen wäre, wenn die Medien einen besseren Job gemacht hätten.“

Wenn man vom Massaker des Oberst Klein an der Zivilbevölkerung durch die Sprengung eines liegengebliebenen Tanklasters absieht, wurde Afghanistan über den Großteil dieser 20 Jahre umso mehr mit Vergessen gestraft, je schlechter es lief. Währenddessen konnten 16 Jahre lang deutsche Verteidigungsminister unter Angela Merkel in Afghanistan praktisch nach Belieben schalten und walten, ohne die Kontrolle der deutschen Medien zu fürchten. Stell dir vor, es ist Krieg, und niemand berichtet darüber.

Man kann nur vermuten, wie anders der Krieg verlaufen wäre, wenn die Medien einen besseren Job gemacht hätten. Dass er ganz anders geendet hätte, kann man als gesichert annehmen, denn alles an den Planungen, Handlungen und Taten in diesen letzten Wochen schreit: „Gut, dass niemand zuschaut, ansonsten kämen wir nie damit durch.“

Jetzt, da alles noch schlimmer gekommen ist, liegt es auch an uns allen, am 26. September – oder bereits zuvor per Brief – eine passende Antwort darauf zu finden. Man fällt nämlich nicht über die eigenen Fehler, sondern darüber, wie andere sich zu diesen Fehlern positionieren. Also: Kommen die damit durch? Meinung

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  1. Levent Öztürk sagt:

    Anhand der heutigen Berichterstattungen wird sehr klar und deutlich, dass in Deutschland der Großteil der Medien sowie Politiker den Unterschied zwischen den Akteueren in Afghanistan, wie z. B. Taliban, Al Kaida, IS und all die vielen „Rebellengruppierungen“ kennen. Lediglich sehr wenige Personen können die Lage in Afghanistan richtig einschätzen, darunter Jürgen Todenhöfer, der sehr viele Male in Afghanistan war und alles selbst vor Ort recherchiert hat aber solchen Personen die Medien leider kein Mikro hinhalten. Kaum jemand kennt zudem die Bilanz des 20 Jahre dauernden Afghanistan-Krieges: 240.000 tote Afghanen, USA haben für Kriegseinsätze 834 MRD $ und für „Aufbauprojekte“ 137 MRD $ ausgegeben, die Bundeswehr hatte Kriegskosten von 12,5 MRD $. Sowohl die Todesopfer als auch die über 1 Billion $ waren aus heutiger Sicht für umsonst. Was für eine Schande!

  2. J-S sagt:

    „20 Jahre Krieg für nichts“
    Erzählen sie das den jungen Afghanen die in den letzten 20 Jahren mehr Freiheiten erreicht hatten als sie sich die Eltern wohgl je erträumt hatten. Besonderns in Bezug auf die Frauen und Mädchen.
    „außer dem jämmerlichen Bild westlicher Soldaten mit eingeklemmtem Schwanz“
    Ach nur die „westlichen Soldaten“ ? Soweit mir bekannt verfügt(e) Afghanistan über eine Armee und entsprechendes Militärisches Gerät und eine Ausbildung um dieses einzusetzen. Das ist NICHT passiert. Aber klar, waren die „westlichen Soldaten“ Schuld
    „die vor ein paar bewaffneten Bauernlümmeln“
    Soetwas kann nur jemand sagen der die Gräuel der „Bauernlümmel“ mit Verstümmelungen, Hinrichtungen und ähnlichem nie gesehen, erleiden oder auch nur Angst davor haben musste. Alleine für diesen Satz müssten sie sich einfach nur schämen
    „Und Millionen Menschen, die mit denjenigen Extremisten allein gelassen werden.“
    siehe 2. Absatz Nicht der Westen hat Afghanistan allein gelassen, die Afghanen haben sich scheinbar zu großen Teilen selber verlassen.