Myanmar
Neue Corona-Welle inmitten von Chaos und Gewalt
Sechs Monate nach dem Putsch steht Myanmar am Abgrund. Regimegegner werden ermordet, verhaftet, verfolgt. Die humanitäre Lage ist katastrophal. Hinzu kommt eine weitere Corona-Welle.
Von Nicola Glass Freitag, 30.07.2021, 5:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 29.07.2021, 12:16 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die gelbe Fahne, die aus einem Fenster in Yangon hängt, signalisiert: „Wir brauchen Hilfe!“ Ganze Familien sind mit Covid-19 infiziert, können nicht raus aus den eigenen vier Wänden. Die „Fahnen-Kampagne“ wurde unter anderem in den sozialen Netzwerken initiiert. Freiwillige und Nachbarn versuchen, so gut es geht zu helfen.
Anderswo stehen die Menschen für Sauerstoffflaschen an – teils unter Einsatz ihres Lebens. Es kam schon vor, dass Soldaten auf Wartende geschossen haben. Offiziell infizierten sich in Myanmar laut der US-amerikanischen Johns-Hopkins-Universität seit Beginn der Pandemie bis Anfang dieser Woche fast 270.000 Menschen, mehr als 7.000 starben. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein.
Die Lage ist außer Kontrolle – nicht zuletzt, weil die Junta medizinisches Personal, das sich den Protesten gegen den Putsch vom 1. Februar angeschlossen hatte, töten oder verhaften lässt.
Pandemie als Waffe
„Progressive Voice Myanmar“, ein Netzwerk aus Bürgerrechtsorganisationen, wirft den Machthabern vor, die Pandemie als Waffe zu missbrauchen – „als kollektive Bestrafung für eine Bevölkerung, die sich entschieden weigert, sich dem Militärregime zu ergeben“.
Die dritte Welle trifft ein geschundenes Land. Seit dem Putsch vor sechs Monaten wurden laut der Gefangenen-Hilfsorganisation AAPP mehr als 930 Menschen bei Protesten getötet. Mehr als 6.900 wurden verhaftet, die meisten sitzen noch hinter Gittern. Selbst kleine Kinder werden nicht verschont. Findet das Militär jene nicht, die auf der Fahndungsliste stehen, werden deren Angehörige als Geiseln benutzt.
„Alarmierendes Ausmaß sexueller Gewalt“
Im Widerstand gegen die Junta spielen Frauen eine Schlüsselrolle. Sie bekommen die Brutalität des Regimes ganz besonders zu spüren. So kritisiert die Vorsitzende des Beirats von „Progressive Voice Myanmar“, Khin Ohmar, ein „alarmierendes Ausmaß sexueller Gewalt“ gegen Inhaftierte, das sich auch gegen Homo-, Bi- und Intersexuelle, Transgender und queere Menschen richte.
Immer wieder hat Myanmars „Bewegung des zivilen Ungehorsams“ die Weltgemeinschaft um Intervention gebeten – vergebens. Terrorisiert von Soldaten und regimetreuen Schlägertrupps hat ein Teil daher begonnen, sich den seit Jahrzehnten bestehenden Rebellengruppen wie der „Karen National Liberation Army“ (KNLA) oder der „Kachin Independence Army“ (KIA) anzuschließen oder sich im Kampf ausbilden zu lassen. Nach dem Putsch haben die KNLA im Osten sowie die KIA im Norden ihre Attacken gegen das Regime verschärft. Daraufhin ließ die Junta ganze Landstriche bombardieren.
„Terror vom Himmel“
Aktivisten der ethnischen Karen-Minderheit dokumentierten zwischen Ende März und Anfang Mai allein in einem Distrikt 27 Luftangriffe und 575 Attacken mit Mörsergranaten. Dutzende Menschen seien getötet worden und 70.000 geflohen, heißt es in dem Bericht „Terror vom Himmel“.
Inmitten dieser Eskalation haben Protestierende zudem „Volksverteidigungskräfte“ gebildet. Viele bekundeten ihre Unterstützung für die von Putschgegnern im April proklamierte „Regierung der Nationalen Einheit“ (NUG), der entmachtete Abgeordnete, Köpfe der Protestbewegung sowie Vertreter ethnischer Minderheiten angehören. Sie hatte zur Bildung einer „föderalen Armee“ aufgerufen. Allerdings unterstehen die „Volksverteidigungskräfte“ weder dem Kommando noch der Kontrolle der NUG.
230.000 Flüchtlinge
Der Aufstieg der neuen Milizen stelle neue Fronten für das Militär dar, das wohl weiterhin blindlings Zivilisten attackieren werde, bilanzierte die auf Konflikte spezialisierte „International Crisis Group“ Ende Juni. Die Vereinten Nationen haben die Zahl der Geflüchteten seit dem Putsch auf mindestens 230.000 beziffert.
Die politische Krise habe zu einer „multidimensionalen Menschenrechts-Katastrophe“ geführt, kritisierte kürzlich UN-Hochkommissarin Michelle Bachelet. Über sechs Millionen Menschen hätten nicht genug zu essen. Und etwa die Hälfte der Bevölkerung drohe bis Anfang 2022 in die Armut abzugleiten. Die Organisation „Progressive Voice“ fasst die katastrophale Lage so zusammen: „Die Menschen in Myanmar werden von der Junta und Covid-19 erstickt. Sie müssen atmen.“ (epd/mig) Aktuell Ausland
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