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Hakan Demir © Foto: Jannis Chavakis, Zeichnung: MiG

Von Neukölln in den Bundestag

Warum wir mehr Geschichten brauchen

Hakan Demir ist Enkel von Gastarbeiter:innen und tritt für den Bundestag an. Alle zwei Wochen berichtet er uns von seinem Wahlkampf. Diesmal spricht er über die Bedeutung von Geschichten für die Politik.

Von Montag, 03.05.2021, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 03.05.2021, 2:32 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

„Es ist nicht selbstverständlich, dass ich heute hier stehe“. Damit habe ich meine Rede vor zwei Wochen gestartet. Es ging um die Aufstellung der Listenplätze für den Bundestag der SPD Berlin und ich habe für einen vorderen Platz kandidiert. Doch darum soll es heute gar nicht gehen. Es geht mir um Geschichten. In meiner Rede habe ich eine erzählt, und zwar meine eigene – von der Schule bis in die Politik – mit Hürden, Rückschlägen und mit politischen Ideen, zu denen ich gekommen bin.

Nach der Rede habe ich viele positive Rückmeldungen erhalten. Aber ich weiß auch, dass einige es kritisch sehen, wenn man persönliche Geschichten erzählt. Man kann natürlich auch eine Rede halten, die nur Fakten aufzählt, ohne eine verbindende Geschichte dahinter zu haben. An diese Rede wird sich dann aber niemand mehr erinnern. Und wenn sich niemand mehr daran erinnern kann, was kann sie dann noch bewirken? Politiker:innen müssen Politik vermitteln, sie bestmöglich und einfach verständlich kommunizieren. Dafür muss die Botschaft erstmal bei den Rezipienten im Gedächtnis „hängen“ bleiben.

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„Wenn wir gerade in dieser Zeit gegen Rechtspopulisten bestehen wollen, müssen wir uns öffnen und Geschichten erzählen, die die Herzen und Köpfe der Menschen erreichen und sie überzeugen können.“

Seit über 25.000 Jahren nutzt der Mensch Geschichten, um zuverlässig Informationen zu verankern. Der Hunger nach guten Geschichten ist vorhanden. Das wissen auch die Streaming-Anbieter wie Netflix, Amazon und Co. Und das wissen auch Journalist:innen. Nur sind Politiker:innen etwas zaghaft. Wenn wir gerade in dieser Zeit gegen Rechtspopulisten bestehen wollen, müssen wir uns öffnen und Geschichten erzählen, die die Herzen und Köpfe der Menschen erreichen und sie überzeugen können.

Manche Gesprächspartner sagen mir, dass die Rolle von Eltern oder Großeltern und eigene Probleme, die man selbst in der Vergangenheit überwunden habe, nicht in die Politik gehören. Es gehe hier schließlich um fachliche Kompetenz, um Fakten, Zahlen, um Wissen. Meine Antwort ist darauf immer wieder: Das, was uns alle einzigartig macht, sind nicht nur unsere Themen, unser Wissen, sondern unsere persönlichen Geschichten und Erlebnisse, die uns zu diesen Themen geführt haben. Wie soll man sich mit anderen Menschen identifizieren, wenn man sie nicht kennt? Wie soll man sich mit Menschen identifizieren, eine Verbindung zu ihnen aufbauen, wenn sie sich nicht öffnen?

Verstehen Sie mich nicht falsch. Mir geht es nicht darum, seine größten Geheimnisse auf den Tisch zu packen und die gleichen Geschichten immer wiederzuerzählen. Mir geht es darum, Verbindungen zu anderen Menschen aufzubauen.

„Deshalb werde ich auch meine nächste Rede womöglich mit dem Satz beginnen: Es ist nicht selbstverständlich, dass ich heute hier stehe.“

Viele Politiker:innen scheuen sich davor, ihre Geschichten zu erzählen: Ist es so falsch, davon zu erzählen, dass die eigenen Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg selbst geflohen sind und bettelarm waren? Ist es so falsch, davon zu erzählen, dass man selbst in einer Familie aufgewachsen ist, in der der Großvater, wenn er den Lohn bekommen hat, in die nächste Kneipe gegangen ist, um diesen wieder zu vertrinken? Ist es falsch zu sagen, dass die eigene Mutter Analphabetin war und man sich heute genau für diesen Bereich starkmacht? Nein, ich denke nicht.

Erzählen Sie, was Sie wollen. Es muss sich für Sie gut anfühlen. Aber in der Politik muss man sich öffnen, um eine Verbindung zu den anderen Menschen aufzubauen, sie zu erreichen, Politik zu vermitteln und nahbar zu machen. Und darum geht es doch.

Mehr Mut zu Geschichten, denn sie gehören zu uns und sie haben uns zu dem gemacht, wer wir sind. Deshalb werde ich auch meine nächste Rede womöglich mit dem Satz beginnen: Es ist nicht selbstverständlich, dass ich heute hier stehe. Meinung

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