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Denkmal des Kniefalls von Warschau auf dem Skwer Willy Brandta © Robert Wielgórski a.k.a. Barry Kent - Eigenes Werk, CC BY 2.5, Link

Die große Geste

Der Kniefall Willy Brandts in Warschau vor 50 Jahren

Das Bild des knienden Kanzlers vor dem Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettos gehört zu den symbolträchtigsten des 20. Jahrhunderts. Es veränderte das Bild der Welt von Deutschland und die Einstellung der Deutschen zu ihrer Vergangenheit.

Von Montag, 07.12.2020, 5:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 06.12.2020, 11:54 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Eben noch hat Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) vor dem Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettos einen Kranz niedergelegt und die Schleife gerichtet. Plötzlich verschwindet sein Kopf zwischen den Menschenreihen, ist von hinten nicht mehr zu sehen: Der Kanzler sinkt auf die Knie, ganz unvermittelt. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt“, schrieb er in seinen 1989 erschienenen Memoiren. Als Kniefall von Warschau ist die große Geste am 7. Dezember 1970 in die Geschichte eingegangen.

Der Bundeskanzler ist in der polnischen Hauptstadt, um den Warschauer Vertrag zu unterschreiben, der die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze enthält. Das Papier ist Teil der sogenannten Ostverträge, mit denen die sozialliberale Bundesregierung ihr Verhältnis zu den kommunistischen Nachbarn entspannen will. Vor der Unterzeichnung besuchen westdeutsche und polnische Regierungsvertreter noch das Mahnmal im Herzen der polnischen Hauptstadt und gedenken der Opfer des jüdischen Aufstands im Warschauer Ghetto 1943.

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Das Bild des knienden Kanzlers geht um die Welt und wird ikonisch. Ein deutscher Kanzler bittet um Verzeihung für die Verbrechen der NS-Zeit. Brandt führt der Welt ein neues, ein friedliches Deutschland vor Augen. „Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien“, schrieb vor 50 Jahren der „Spiegel“-Journalist Hermann Schreiber.

„Diese Schweine“

In der Tat erhält die große Geste allein dadurch großes Gewicht, dass sie von Brandt kommt. Er ist kein NS-Täter. 1933 musste der junge Sozialdemokrat vor den Nazis nach Norwegen und später weiter nach Schweden fliehen.

Der damalige Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, Peter Boenisch, sprach hingegen Brandt das Recht ab zu knien: „Dieses katholische Volk weiß, daß man nur vor Gott kniet“, formulierte er mit Blick auf die Polen. „Und da kommt ein vermutlich aus der Kirche ausgetretener Sozialist aus dem Westen und beugt die Knie.“ Der Erinnerung des SPD-Außenpolitikers Erhard Eppler zufolge war Brandt über diese Zeilen äußerst erzürnt. „Woher wissen diese Schweine, vor wem ich gekniet habe?“, soll der Kanzler gesagt haben.

Info: Die Gedenkstätte, vor der Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 niederkniete, erinnert an den Aufstand im Warschauer Ghetto. Als die Nazis am 19. April 1943 die letzten Bewohner des jüdischen Ghettos in die Vernichtungslager deportieren wollten, wehrten sich dessen Bewohner. Deutsche Polizei-, Wehrmachts- und SS-Einheiten gingen mit großer Härte gegen die unzureichend bewaffneten Aufständischen vor und sprengten ganze Häuserzeilen. Mitte Mai hatten sie den Widerstand gebrochen und das Ghetto fast vollständig zerstört. Rund 56.000 Menschen wurden bei den Kämpfen getötet oder wurden deportiert. Nicht zu verwechseln ist der Aufstand im Warschauer Ghetto mit dem Warschauer Aufstand. Die polnische Untergrundarmee „Armia Krajowa“ versuchte ab dem 1. August 1944, die polnische Hauptstadt von den deutschen Besatzern zu befreien. Zwei Monate lang dauerten die Kämpfe. Wieder gingen deutsche Truppen rücksichtslos vor. Am 2. Oktober, als die polnische Untergrundarmee kapitulierte, waren 200.000 Menschen tot, davon 180.000 Zivilisten, und 90 Prozent Warschaus zerstört. Die Nazis schickten 300.000 Warschauer in die Konzentrationslager, darunter auch Kinder. Die Sowjetarmee, die kurz vor Warschau stand, griff nicht in die Kämpfe ein.

Deutschland gespalten

Ähnlich gespalten wie das Presseecho ist 1970 die Gesellschaft in Westdeutschland. In einer Umfrage des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ antworten auf die Frage, ob Brandt habe knien dürfen, nur 41 Prozent mit Ja, 48 Prozent mit Nein. „Es gab damals keine große Empfänglichkeit für eine Demutsgeste“, erklärt die Politologin Paula Diehl von der Universität Kiel. In der westdeutschen Gesellschaft habe zu dieser Zeit die Verdrängung der NS-Gräuel und des verlorenen Kriegs im Vordergrund gestanden, die Aufarbeitung der Nazi-Zeit stand noch ganz am Anfang.

In Polen sind die Reaktionen vor 50 Jahren positiver. Als Brandt auf die Knie fällt, wird es unter den Umstehenden totenstill. Der damalige Chefredakteur der Wochenzeitung „Polityka“, Mieczyslaw Rakowski, schreibt in sein Tagebuch, etwas Großes sei passiert: „Ich fühlte Tränen in den Augen.“

Stellvertretend für das Volk

Allerdings haben diese positiven Reaktionen noch keine unmittelbaren Konsequenzen. „Brandt flog mit einem enttäuschten Gefühl aus Polen zurück, da seine deutlichen Angebote zu tieferer Versöhnung unbeantwortet blieben“, sagt Jan Lipinsky vom Marburger Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung. Außerhalb Polens habe die Geste Brandts ohnehin kaum Beachtung gefunden, glaubt der Historiker: „Sie passte propagandistisch nicht ins Bild des reaktionären, antikommunistischen Deutschlands.“

Gleichwohl sei Polen nicht der einzige Adressat der großen Geste gewesen, erklärt Politologin Diehl. Die Botschaft Brandts habe sich auch nach innen gerichtet. Er habe die historische Verantwortung Deutschlands übernommen und damit ein deutliches Signal an die Deutschen gesendet, erläutert sie: „Er kniete stellvertretend für das Volk und sorgte dafür, dass die Menschen ihren eigenen Standpunkt überdenken mussten.“

Eingebung des Augenblicks

Ungeklärt ist bis heute, ob Brandt spontan auf die Knie ging oder ob er seine Demutsgeste zuvor geplant hatte. Er habe nichts geplant, sagte Brandt später. Der Wissenschaftler Lipinsky glaubt ihm das: Brandts Kniefall sei „eine Eingebung des Augenblicks gewesen, mit der er die historische Schuld des deutschen Volkes eingestand, obwohl er selbst frei von persönlicher Schuld war, und zugleich um Vergebung bat“.

Unabhängig davon, ob Brandt die Eingebung zum Kniefall erst vor dem Mahnmal oder schon zuvor kam, muss er um die Bedeutung der Geste gewusst haben. Es waren ja genug Journalisten dabei. Als er auf dem nassen Beton kniete, klickten unaufhörlich die Kameras. „Er konnte damit rechnen, dass das medial verbreitet wird“, sagt die Forscherin Diehl. (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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