Nach Wien
Islam-Experte warnt vor Pauschalverdacht gegen Muslime
Islam-Experten warnen nach dem Terroranschlag in Wien vor pauschalen Verdächtigungen von Muslimen. Europa befinde sich durch die Corona-Pandemie in einem Krisenzustand. Das würden Terroristen ausnutzen.
Von Martina Schwager und Franziska Hein Mittwoch, 04.11.2020, 5:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 03.11.2020, 16:48 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Nach Ansicht des Erlanger Islamwissenschaftlers und Juristen Mathias Rohe wird der Islamismus in Deutschland nicht unterschätzt. „Wir haben hier die Augen offen“, sagte Rohe dem „Evangelischen Pressedienst“. Die Schwierigkeit bestehe darin, dass es andere Radikalisierungs- und Täterstrukturen gebe als früher. Die Täter seien häufig Einzelkämpfer, die sich im Internet oder in kleinen, abgeschirmten Zirkeln radikalisierten. Manchmal passiere das sehr schnell. Es sei schwieriger für die Sicherheitsbehörden geworden, an Täter frühzeitig heranzukommen.
„Wir müssen damit rechnen, dass auch hier mal wieder etwas passieren kann. Aber wir dürfen uns jetzt deswegen nicht im Panik versetzen lassen“, sagte der Professor für Bürgerliches Recht. Stattdessen müssten Präventionsmaßnahmen ergriffen werden. Bei aller Wachsamkeit dürften aber nicht die Falschen in Sippenhaft genommen werden.
Etwa auf IS-Rückkehrer müsse ein Auge gehalten werden, sagte Rohe. Es gebe allerdings auch nicht den „typischen“ IS-Rückkehrer. Manche seien nach wie vor radikalisiert und gefährlich. Andere seien frustriert und desillusioniert zurückgekommen. Um diese Personen kümmere man sich im Zuge eine Deradikalisierung und Reintegration. „Wir müssen vor allem auch die zurückgekehrten Frauen im Auge behalten“, betonte der Islamwissenschaftler. Ihnen könne man strafrechtlich relevante Taten schwer nachweisen, wisse aber, dass sie teilweise noch radikale Ideen vertreten. Nicht wenige von ihnen hätten auch Kinder, an die sie islamistische Ideologien weitergeben könnten.
Rohe warnt vor pauschalen Verdächtigungen
In der jüngsten Debatte über den „politischen Islam“ warb Rohe dafür, weiter von Islamismus und islamistisch motivierten Terrorismus zu sprechen. Es gebe in Deutschland kein einheitliches Verständnis für den Begriff „politischer Islam“. Nach seiner Einschätzung gehe es in der jüngsten Debatte vor allem darum zu zeigen, dass die Gefahr des Islamismus und islamistischer Gewalt immer eine Vorgeschichte habe, sagte er. Unter Islamisten seien Menschen zu verstehen, die versuchten, eine Gegenordnung durchzusetzen, die dem demokratischen Rechtsstaat widerspreche. Dabei gehe es nicht um eine persönliche traditionelle oder konservative Lebensweise.
Die Debatte könne gefährlich werden, wenn Muslime oder Moscheeverbände pauschal verdächtigt würden. Notwendig sei ein problemorientiertes Vorgehen. „Wodurch wird der säkulare Rechtsstaat herausgefordert, wer sind die Akteure, welche Ideologien stecken dahinter und was sind die Methoden? Da gibt es Radikalismus von rechts, von links und natürlich auch religiös konnotierten Radikalismus“, sagte Rohe. „Es ist eine Zumutung, wenn die muslimische Bevölkerung sich immer von vorneherein erklären müsste, dass sie zwar Muslime sind, aber trotzdem verfassungstreu.“ Das sei eines Rechtsstaats nicht würdig.
Kiefer: Anschlagsgefahr in Europa hoch
Der Islam-Experte Michael Kiefer sieht eine große Gefahr für weitere Terrorattacken radikaler Muslime in ganz Europa. Die Tat müsste durchaus in der Folge der drei Anschläge in Frankreich und dem Anschlag von Dresden in den vergangenen Wochen gesehen werden, sagte Kiefer dem „Evangelischen Pressedienst“.
Denkbar seien zwei Szenarien: Entweder handele es sich um eine lose Folge von Einzelanschlägen oder – was wahrscheinlicher sei – um eine orchestrierte Aktion ehemaliger Kader der Terrororganisation „Islamischer Staat“. In jedem Fall hätten die Attentäter erkannt, dass die Lage durch die Corona-Krise ihnen in die Hände spiele. „Und in jedem Fall ist die Gefahr groß, dass weitere Menschen Anschläge verüben werden“, sagte der Wissenschaftler am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück.
Der Kontinent befinde sich durch die Corona-Pandemie in einem Krisenzustand, erläuterte Kiefer. Die Gesellschaften seien ohnehin angespannt und verletzlich. „Das ist wie eine Einladung. Da ist die Zeit aus Sicht der Terroristen günstig, ein hohes Maß an Aufmerksamkeit zu erreichen, ein Maximum an Angst und Schrecken zu verbreiten und größtmögliche Spannungen zu erzeugen.“ Eine Gesellschaft, die in stabilen Zeiten in sich ruhe, sei nur schwer zu verunsichern.
Kiefer: Sicherheitsbehörden gefordert
Derzeit seien vor allem die Sicherheitsbehörden gefordert, weitere Attacken möglichst zu verhindern, sagte der Experte. Prävention und Deradikalisierung könnten nur langfristig wirken. Deutschland sei in diesem Bereich mittlerweile gut aufgestellt. Allerdings gebe es noch Nachholbedarf im Strafvollzug. „Wir müssen uns fragen, was machen wir mit radikalen Gewalttätern in den Gefängnissen. Die kommen ja irgendwann wieder raus.“ Bei dem Attentäter von Dresden, der eine dreijährige Haftstrafe verbüßt habe, sei die Deradikalisierung offensichtlich fehlgeschlagen.
Kiefer wies aber darauf hin, dass Frankreich deutlich stärker mit radikalem Islamismus belastet sei als etwa Deutschland oder Österreich. Das sei auf die Vororte der großen Städte zurückzuführen, in denen überwiegend muslimische Zuwanderer wie in Ghettos lebten. Die sozialen Probleme dort seien jahrelang von den Regierungen nicht angegangen worden. „Das ist ein Nährboden für Radikalisierung. Der Islamismus konnte dort unbemerkt anwachsen.“ (epd/mig) Aktuell Panorama
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