Deportation, Geschichte, Juden, Nationalsozialismus, Antisemitismus
Die erste Deportation von Juden © Sezene aus YouTube-Video

Heute vor 80 Jahren

Erste Massendeportation deutscher Juden

Am 22. Oktober 1940 wurden mehr als 6.500 Juden aus dem Südwesten Deutschlands in das berüchtigte französische Lager Gurs deportiert. Eine Überlebende erinnert sich: "Ich sah meine Eltern erbleichen, zu Tode erschrecken"

Von Donnerstag, 22.10.2020, 5:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 21.10.2020, 19:25 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Margot Wicki-Schwarzschild bekommt bis heute die Bilder und den Lärm nicht aus dem Kopf. „Stiefelgetrampel und lautes Klopfen an der Wohnungstür, ich sah meine Eltern erbleichen, zu Tode erschrecken.“ Die 88-jährige gebürtige Kaiserslauterin, die heute in der Schweiz lebt, erinnert sich noch genau, was in den frühen Morgenstunden des 22. Oktober 1940 geschah: „In der Tür standen Gestapo-Leute in Zivil.“ Eine Stunde Zeit hatte die Familie zum Packen. Dann wurde das Mädchen mit vielen anderen verängstigten jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auf den Güterbahnhof der westpfälzischen Stadt getrieben. Von dort ging der Zug ab in Richtung Westen. Ziel war das südfranzösische Internierungslager Gurs am Rand der Pyrenäen.

80 Jahre ist es her, dass Margot Wicki-Schwarzschild gemeinsam mit ihren Eltern, der Großmutter und ihrer Schwester von den Nationalsozialisten deportiert wurde – zusammen mit mehr als 6.500 anderen Juden aus der Pfalz, Baden und dem Gebiet des heutigen Saarlands. Es war die erste Massendeportation von Juden aus dem Deutschen Reich überhaupt.

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Geplant hatten sie die NS-Gauleiter für die Saarpfalz und Baden, Joseph Bürckel und Robert Wagner. Die beiden glühenden Nationalsozialisten seien vom Ehrgeiz beseelt gewesen, der Reichsführung in Berlin ihre beiden Gaue als erste „judenfrei“ zu melden, sagt der Kaiserslauterer Historiker Roland Paul.

„Transportfähige Volljuden“

Die Festnahme und Deportation aller „transportfähigen Volljuden“, wie es im NS-Jargon hieß, aus dem Südwesten bildete im Oktober 1940 den bisherigen Höhepunkt der Judenverfolgung durch das NS-Regime. Etwa zwei Drittel von ihnen wurden zwischen 1942 bis 1944 von den Nazis in die Vernichtungslager im Osten transportiert und dort ermordet. Viele starben auch in dem elenden Barackenlager Gurs und anderen Internierungslagern auf französischem Boden an Hunger, Krankheiten, Kälte.

Unter dem Druck der Nationalsozialisten wies das – zuvor von der Aktion nicht informierte – französische Vichy-Regime die Deportierten in das Lager Gurs ein, wie Historiker Paul berichtet. Die französische Regierung hatte es 1939 ursprünglich zur Internierung politischer Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs angelegt. Später wurden auch nach Frankreich geflohene deutsche Emigranten dorthin verschleppt, darunter die Philosophin Hannah Arendt.

Davon, wie die Nazis die Menschen im Südwesten zur Deportation zusammentrieben, existiert ein kurzes Filmdokument aus der badischen Stadt Bruchsal, das auch auf Youtube verfügbar ist: Es zeigt Gruppen vor allem älterer Menschen, mit Koffern in den Händen ziehen sie an teilnahmslosen uniformierten Bewachern vorüber. Viele haben Decken dabei, ein Junge trägt einen Rucksack.

Margot Wicki-Schwarzschild, die vor allem an Schulen häufig über ihre Erinnerungen spricht, hat bei der Deportation den Judenhass ihrer Mitmenschen erlebt. Die Hitlerjugend ihrer Heimatstadt habe Spalier gestanden, sie verhöhnt und bespuckt, erzählt die ehemalige Dolmetscherin.

Drei Tage und vier Nächte

Von Ludwigshafen aus wurden mehr als 800 Pfälzer Juden mit zwei Zügen nach Gurs verschleppt, mehr als 130 Juden aus dem heutigen Saarland mussten in Forbach zusteigen. Aus Baden fuhren sieben Züge mit etwa 5.700 Deportierten ab. Darunter befanden sich auch etwa 600 pfälzische Juden, die nach den Novemberpogromen von 1938 in badische Städte gezogen waren.

Drei Tage und vier Nächte lang waren die Züge nach Gurs unterwegs. Viele vor allem ältere Frauen und Männer starben wegen der Strapazen bereits auf dem Transport oder kurz nach der Ankunft. Katastrophal waren die Zustände in dem mit Stacheldraht eingezäunten Lager. Einigen Internierten gelang es, das Lager zu verlassen und auszuwandern. Unterstützung bekamen die geschundenen Menschen von Hilfsorganisationen aus der Schweiz, den USA und Frankreich.

„Wir dürfen nicht vergessen.“

Mit Hilfe einer Schwester des Schweizerischen Roten Kreuzes konnten sich schließlich auch Margot Wicki-Schwarzschild, ihre Schwester und ihre katholische Mutter retten. 1941 war die Familie von Gurs in das Lager in Rivesaltes verlegt worden, 1942 drohte dann die Deportation nach Auschwitz. Die Mutter zeigte ein Kommunionsbild von sich vor – ihre Papiere hatten die Schwarzschilds zu Hause vergessen. „Das rettete uns das Leben“, sagt Margot Wicki-Schwarzschild. Nicht aber dem jüdischen Vater: Er wurde am Tag darauf nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Margot Wicki-Schwarzschild kehrte 1946 mit Mutter und Schwester zunächst nach Kaiserslautern zurück und zog später in die Schweiz. Gemeinsam mit ihrer Schwester Hannelore hat sie ein Buch über ihre Erinnerungen veröffentlicht. Auch wenn es wehtut – als eine der letzten Zeitzeuginnen will sie besonders jungen Leuten weiter davon erzählen, was den Juden aus dem Südwesten vor 80 Jahren widerfahren ist: „Wir dürfen nicht vergessen.“ (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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