Interview mit Christian Wulff
Zehn Jahre „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“
Mit seinem Satz "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland" in seiner Rede am 3. Oktober 2010 hat der damalige Bundespräsident Christian Wulff eine hitzige Debatte über Integration und Identität in Deutschland ausgelöst. Zehn Jahre später sagt er im Gespräch, der Satz sei notwendiger denn je.
Von Corinna Buschow Freitag, 02.10.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 01.10.2020, 15:20 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Herr Wulff, vor zehn Jahren haben Sie mit dem Satz „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“ eine erhitzte Diskussion losgetreten. Stehen Sie weiter zu dem Satz?
Christian Wulff: Ich halte den Satz für notwendiger denn je. Er hat damals diese enorme Bedeutung bekommen, weil ich ihn am Tag der Einheit als Bundespräsident auf dem Höhepunkt der Debatte über das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin ausgesprochen habe. Die Stimmung im Land hatte sich deutlich verändert, und es war mein Versuch, diese Debatte wieder einzufangen und auf den Kern des Grundgesetzes hinzuführen.
Warum ist er notwendiger denn je?
„Die Gegner von Vielfalt, von einer bunten Republik Deutschland, vom gleichberechtigten Zusammenleben mit Minderheiten sind mehr geworden.“
Die Gegner von Vielfalt, von einer bunten Republik Deutschland, vom gleichberechtigten Zusammenleben mit Minderheiten sind mehr geworden. Gleichzeitig haben sie durch soziale Netzwerke, die es 2010 nur in Anfängen gegeben hat, eine enorme Dynamik bekommen. Das hat die Debatten in unserem Land scharfkantiger gemacht, Spaltungen verstärkt und Konfrontationen erhöht. Nach meiner Rede kam auch das Unfassbare zutage: die Morde des NSU. Über viele Jahre. Die Liste rechtsextremistischer Morde setzt sich fort, in Kassel, Halle, Hanau und vielen anderen Orten.
Müssten also viel mehr Menschen und führende Politiker selbstverständlich sagen, dass der Islam zu Deutschland gehört?
Das täte der Debatte gut. Menschenwürde eines jeden und Religionsfreiheit, auch die Religionsausübung, sind im Grundgesetz garantiert. Da ist es doch unbestreitbar, dass Moscheen inzwischen zu unserem Alltagsbild gehören und Rücksicht auf religiöse Belange von Muslimen genommen werden sollte. Gut finde ich aktuell, dass der 1. FC Köln bewusst seine Auswärtstrikots mit der Stadtsilhouette mit dem Dom und der Zentralmoschee bedrucken ließ. Das ist eine souveräne Form des Umgangs mit Vielfalt. Integrativ.
Hat die Gesellschaft aus den Anschlägen des NSU oder auf die Synagoge in Halle gelernt?
Nach diesen Anschlägen wurde uns immer wieder das Bild vermittelt, die Täter seien unauffällig, eigentlich freundlich und zugänglich, nette Nachbarn oder Schützenbrüder gewesen. Ich zweifele an, ob nicht diese Täter doch hier und da Inhalte geäußert haben, denen das Umfeld hätte deutlich und unmissverständlich widersprechen müssen.
Das heißt, Sie vermuten einen Mangel an Zivilcourage? Wird zu oft weggehört?
Christian Wulff: Der CDU-Politiker war von Mitte 2010 bis Februar 2012 der zehnte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Nach rund anderthalb Amtsjahren trat er wegen Vorwürfen der Vorteilsnahme als Staatsoberhaupt zurück. 2014 wurde er vom Landgericht Hannover freigesprochen. Aus seiner kurzen Amtszeit ist vor allem ein Satz in Erinnerung. „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“, sagte er am 3. Oktober 2010 in Bremen und setzte damit einen deutlichen Akzent in der Debatte um die Integration Eingewandeter. Geboren wurde Wulff am 19. Juni 1959 in Osnabrück als Sohn eines Kaufmanns. 2003 wurde Wulff Ministerpräsident von Niedersachsen. Der 61 Jahre alter Vater zweier Kinder ist heute wieder als Rechtsanwalt tätig und in zahlreichen Ehrenämtern engagiert. Unter anderem ist Wulff Vorsitzender der Deutschlandstiftung Integration.
Es braucht mehr Erkenntnis, dass jeder Einzelne etwas dafür tun muss, dass Brücken gebaut und Gräben zugeschüttet werden. Parallelgesellschaften werden zurecht beklagt, aber ein Parallelogramm hebt man auch dadurch auf, dass man die eine Parallele auf die andere zubewegt. Es gibt nicht nur eine Bringschuld von Menschen, die zu uns gekommen sind, sondern auch eine Holschuld, etwas dafür zu tun, diese Menschen für unser Land zu gewinnen bzw. deren großen Beiträge als unsere Mitbürger für unseren Erfolg anzuerkennen.
Haben Sie ein Beispiel, wann Sie Feindlichkeit entgegengetreten sind?
Wulff: Meine politische Aktivität begann 1977, als die jüdische Synagoge in Osnabrück geschändet war. Ich habe damals einen Schweigemarsch mitorganisiert, am Grundstück der 1938 von den Nazis zerstörten Synagoge vorbei zur heutigen, mit einem Hakenkreuz beschmierten Synagoge. Ich wollte damit deutlich machen: Damals in der NS-Zeit hat man Minderheiten allein gelassen. Das darf kein zweites Mal passieren. Heute stellt man sich mit Zivilcourage an die Seite der Minderheit und lebt das „Nie wieder“.
Seit Ihrer Rede im Jahr 2010 ist viel passiert: die Fluchtbewegung 2015 und jetzt die Corona-Pandemie. Was ist in Ihren Augen derzeit das größte Hindernis für gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Ich will erst einmal positiv hervorheben, dass der Zusammenhalt breit als Thema erkannt ist. Meine Elterngeneration hat den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg bewältigt, meine Generation bewältigt die Wiedervereinigung. Und die kommenden Verantwortungsträger haben nun die große Aufgabe, den Zusammenhalt einer vielfältigeren Gesellschaft zu gewährleisten.
Und negativ?
„Mir macht Sorge, dass wir so viel Hass, Radikalisierung und Häme in einer Zeit erleben, in der es unserem Land wirtschaftlich so gut geht, wie es ihm nie zuvor ging. „
Mir macht Sorge, dass wir so viel Hass, Radikalisierung und Häme in einer Zeit erleben, in der es unserem Land wirtschaftlich so gut geht, wie es ihm nie zuvor ging. Und dann knüpft sich natürlich die Frage an, wie die Gesellschaft in den nächsten Jahren diskutieren und wählen wird, wenn durch Corona und den weltweiten Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt die Luft dünner wird. Dann sucht man häufig Ventile, macht andere verantwortlich. Die rechtsextremen Foren sind voll mit Verschwörungstheorien und Häme gegen „die da oben“. Ich sehe die Gefahr, dass mehr Leute dem auf den Leim gehen.
Rechtsextreme bekommen Auftrieb durch ihre Ablehnung der Corona-Einschränkungen, die auch andere Menschen teilen. Muss man etwas anders machen?
Wir dürfen niemals Menschen pauschal als Extreme abstempeln, bei denen manche finden, dass zu schnell zu viel geregelt wurde. Die Kritik daran, dass Fahrradfahrer an der frischen Luft an der Grenze zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein am Weiterfahren gehindert wurden, obwohl jeder Deutsche Freizügigkeit im Bundesgebiet genießt, kann ich jedenfalls nachvollziehen.
Wir stehen kurz vor dem 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung. Ist das Land geeinter als vor zehn Jahren, als Sie die Rede zum 20. Jubiläum hielten?
Am meisten vermisse ich Verständnis, Lob und Anerkennung dafür, welche Veränderungen die Ostdeutschen in den vergangenen 30 Jahren geschultert haben. Im Westen hat sich fast nichts verändert, im Osten dafür fast alles. Dafür würde ich mir mehr Respekt und Interesse von westdeutscher Seite wünschen. Wir müssen mehr miteinander reden. Deswegen gehe ich am 1. Oktober bewusst in die Frauenkirche nach Dresden, um dort unter dem Titel „Zehn Jahre später – immer noch zu früh?“ über den Satz „Der Islam gehört inzwischen zu Deutschland“ zu sprechen.
Müssen verantwortliche Politiker mehr in dieser Weise mit den Menschen reden, auch bei anderen Themen?
Ich bewundere den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) dafür, dass er bei jeder noch so kleinen Veranstaltung den Dialog sucht und sich für keine Begegnung zu schade ist. Das ist in meinen Augen der Weg, den alle demokratischen Parteien gehen müssen, auch wenn man nicht alle zurückgewinnen wird. (epd/mig) Interview Leitartikel Politik
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