Studie
Gästebesetzung von TV-Talkshows verzerrt Realität
Die gesellschaftliche Vielfalt wird in TV-Talkshows kaum abgebildet. Vor allem Migranten sind selten präsent, Geflüchtete werden oft als Problem geframed. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Untersuchung.
Dienstag, 15.09.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 14.09.2020, 22:35 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Die Talkshows von ARD und ZDF bilden mit ihrer Gästebesetzung die Realität des politischen Systems nur unzureichend ab. Das ergab eine Studie des Think-Tanks „Das Progressive Zentrum“, die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. Insbesondere die Wertschätzung der kommunalen und europäischen Ebene könne darunter leiten.
Auffallend niedrig sei die Präsenz von Organisationen, die besonders hohes Vertrauen in der Gesellschaft genössen, beispielsweise Verbraucherschützern, Nichtregierungsorganisationen oder Gewerkschaften. Wie aus der Erhebung hervorgeht, sind auch Personen mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert in den Talk-Runden. Geflüchtete werden der Studie zufolge vornehmlich als Gefahr gezeigt.
Über 1.200 Sendungen untersucht
Die Studie mit dem Titel „Die Talkshow-Gesellschaft“ untersuchte die Gästelisten und Themen von 1.208 Sendungen über einen Zeitraum von drei Jahren (März 2017 – März 2020), plus der Sendungen aus der Hochphase der Corona-Pandemie (04. März – 24. April 2020). Der Schwerpunkt der Analyse lag auf den ARD-Sendungen „Anne Will“, „Hart aber fair“ und „Maischberger“ sowie der ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“, für punktuelle Vergleiche wurden außerdem „Markus Lanz“ (ZDF) und die „Phoenix Runde“ ausgewertet.
Zwei Drittel aller Gäste kamen der Untersuchung zufolge aus Politik und Medien, 8,8 Prozent aus der Wissenschaft, 6,4 Prozent aus der Wirtschaft und 2,7 Prozent aus der organisierten Zivilgesellschaft. Politiker wurden vor allem auf Bundesebene eingeladen (70 Prozent), während der Anteil der europäischen und der kommunalen Ebene erheblich geringer ausfiel (7,3 und 2,4 Prozent).
Kaum Migranten in Talk-Shows
Selbst zu Themen, bei denen Kompetenzen sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene liegen, diskutieren EU-Politiker eher selten mit: In drei Viertel aller Sendungen von Will, Plasberg, Illner und Maischberger zum Thema Migration bzw. Asyl waren der Auswertung zufolge keine EU-Politiker anwesend. Das heißt also: „Zahlreiche Themen, die heute maßgeblich auf europäischer Ebene verhandelt werden, debattieren die Talkshows immer noch stark aus nationaler Sicht“, so die Studienautoren. Und wenn die europäische Ebene zu einem Thema mitreden dürfe, dann zuvorderst repräsentiert durch deutsche EU-Politiker. Europa werde „durch die nationale Brille betrachtet.“
Ein deutliches Ungleichgewicht zeichnet sich auch bei der Gästewahl im Hinblick auf die Abbildung der Gesellschaft ab. Die Autoren verweisen auf eine Erhebung des Journalisten Fabian Goldmann, der die Gäste von Talkshows aus dem Jahr 2019 untersucht hatte. Er kommt zu dem Schluss, dass die Gästelisten die Diversität der Gesellschaft nur unzureichend abbilden. Im Gegensatz zur Gesamtgesellschaft sind seinen Zahlen zufolge Migranten (5,4 Prozent), People of Color (6,6 Prozent) in der Talkshow-Gesellschaft deutlich unterrepräsentiert. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine Spiegel-Untersuchung während der Hochphase der Corona-Pandemie. Auch danach waren Migranten in den Corona-Talkshows deutlich unterrepräsentiert.
Geflüchtete als Gefahr geframed
Ein anderes Beispiel ist die Promotion von Simon Goebel über die Wirklichkeitskonstruktion der Talkshows im Themenbereich Migration und Flucht. Mittels Diskursanalyse zeigt Goebel, dass Geflüchtete vornehmlich als Gefahr oder ökonomischer Nutzen geframed und Differenzen zu den sogenannten „Einheimischen“ in den Sendungen häufig reproduziert werden.
„Zugespitzt formuliert trifft in den Talkshows Hauptstadtpolitik auf Hauptstadtjournalismus“, so die Experten. Insbesondere die geringe Präsenz anderer politischer Ebenen ein demokratisches Problem dar. „Erst als KommunalpolitikerInnen im Zuge der Flüchtlingsdebatte Zielscheibe rechtsradikaler Angriffe wurden, waren sie für kurze Zeit in den Talkshow-Runden sichtbarer“, so das Fazit der Studienautoren.
Experten fehlen in Talk-Shows
„Dabei sind sie es, die nicht nur nah an den Menschen sind, sondern auch die Entscheidungen höherer Ebenen umsetzen müssen. Bei Klimaschutz, Geflüchtetenunterbringung oder Infrastruktur müssen sie häufig pragmatische Lösungen finden und werden dadurch zu ExpertInnen der Politikimplementierung“, heißt es in der Studie.
Wie aus der Untersuchung weiter hervorgeht, repräsentierten acht von zehn Gästen aus der Wirtschaft die Unternehmerseite, Gewerkschaften und Verbraucherschutz waren selten präsent. Zwei Drittel der Gäste aus der organisierten Zivilgesellschaft waren Aktivisten, Nichtregierungsorganisationen kamen kaum zu Wort. In der Corona-Zeit stieg der Anteil der Gäste aus der Wissenschaft auf 26,5 Prozent, aus dem Sozialbereich und der Bildung kamen zu Beginn der Krise nur jeweils 0,7 Prozent der Gäste.
Studien-Autoren: Vertrauen stärken!
Die Studien-Autoren Paulina Fröhlich und Johannes Hillje plädieren angesichts dieser Ergebnisse dafür, Vertrauen zu stärken, lösungsorientierter zu debattieren und den politischen Blickwinkel zu weiten. Die zuletzt bei den Corona-Demos spürbare Entfremdung mancher Menschen von Medien und Politik sei auch als „Krise der Repräsentation“ zu verstehen.
„Das Progressive Zentrum“ ist nach eigener Darstellung ein unabhängiger und gemeinnütziger Think-Tank mit dem Ziel, neue Netzwerke progressiver Akteure unterschiedlicher Herkunft zu stiften und eine tatkräftige Politik für den ökonomischen und gesellschaftlichen Fortschritt mehrheitsfähig zu machen. Die Organisation hat ihren Sitz in Berlin. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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