„Ich habe geschossen“

Angeklagter gesteht Mord an Walter Lübcke

Der Prozess um den Mord an dem früheren Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke hat eine neue Wendung genommen. „Ich habe geschossen“, sagt der Hauptangeklagte vor Gericht. Es ist sein mittlerweile drittes Geständnis.

Von Donnerstag, 06.08.2020, 5:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 05.08.2020, 18:15 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

„Ich habe geschossen“ – das sagt am Mittwoch der Hauptangeklagte Stephan E.: Mit einem neuen Geständnis hat der Prozess um den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main eine überraschende Wende genommen. „Ich übernehme die Verantwortung“, trägt E.s Verteidiger Mustafa Kaplan aus einer Erklärung des Angeklagten vor.

„Es bleibt unentschuldbar, was ich der Familie Lübcke angetan habe“, heißt es dort. „Es war feige, falsch und grausam.“ Der Anwalt liest die Worte „es tut mir leid“ dreimal.

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Widersprüchliche Aussagen

Stephan E. bezichtigt sich in seinem mittlerweile dritten Geständnis – dem ersten vor Gericht – des Mordes und den Mitangeklagten Markus H. der geistigen Urheberschaft. Nach dem Vortrag seines Anwalts schilderte E. selbst, wie er und H. zwischen 2016 und 2018 mehrfach das Haus Lübckes in Wolfhagen-Istha ausspähten, und wie die Tat in der Nacht zum 2. Juni 2019 geschehen sein soll. Er und H. seien von verschiedenen Seiten auf die Terrasse zugelaufen, er mit der Pistole im Anschlag auf Lübcke zu. „Beweg dich nicht“, habe er Lübcke zugerufen, und ihn mit der Hand in seinen Stuhl zurückgedrückt.

Als Lübcke nach einem kurzen Wortwechsel zu schreien begonnen habe und sich wieder aufrichten wollte, habe er auf dessen Kopf abgedrückt. Danach seien sie weggelaufen. E., der zwischen seinen Antworten immer wieder durch die Nase schnieft, äußert sich widersprüchlich über die zwischen ihm und H. verabredete Absicht.

Vater ein Ausländerfeind

Zunächst sagt er, „Lübcke einzuschüchtern, ihn zu schlagen, das war die Absicht“. Ein Schuss sei nur als Warnschuss gedacht gewesen. Später sagt er, „es war vereinbart, auf jeden Fall auf Herrn Lübcke zu schießen“. Zuvor schilderte Verteidiger Kaplan in dem schriftlichen Geständnis E.s Lebenslauf. Eine dominante Rolle nahm darin der alkoholkranke Vater ein, der im Suff E. und seine Mutter häufig verprügelt habe. Das Zuhause sei „eine Hölle aus Gewalt, Jähzorn und Eifersucht“ gewesen. Der Vater sei ein Ausländerfeind gewesen. Er, E., habe diese Einstellung übernommen, um wenigstens eine Gemeinsamkeit mit seinem Vater zu haben.

Erst im Gefängnis – nach einem Sprengstoffanschlag auf eine Asylunterkunft und einen Messerangriff – sei er, E., politisiert worden, trug Kaplan weiter vor. Die Gruppen in der NPD und der Freien Kameradschaft Kassel seien eine Art Heimat geworden. E.s Thema sei „die Überfremdung und Gewalt von Ausländern gegen Deutsche“ gewesen.

Angeklagter bittet um Aussteigerprogramm

2009 sei er aus der rechtsradikalen Szene ausgestiegen. Im selben Jahr habe er H. kennengelernt. Damals, auch durch den Tod des Vaters, sei es ihm, E., schlecht gegangen. Die Freundschaft von H. habe ihm gutgetan: „Er war eine Mischung aus Freund und Vater.“ Ihre Gespräche seien immer politischer geworden. H. habe gesagt, die westliche Lebensart müsse gegen „die drohende Islamisierung verteidigt werden“. „Er hat mich radikalisiert, manipuliert und aufgehetzt“, verlas der Verteidiger. H. sei der Wortführer gewesen. „Er bestimmte, was wir machten. Ich ordnete mich ihm unter.“ An dem Abend des 1. Juni in der Nähe des Hauses Lübckes habe H. das Kommando zum Losgehen gegeben.

„Ich kann es nicht rückgängig machen“, trug Kaplan vor. E. bitte um Aufnahme in ein Aussteigerprogramm für Rechtsradikale. Die letzten Worte galten seiner Tochter, die nicht mehr mit ihm reden wolle: „Ich hoffe, dass sie mir eines Tages verzeihen wird.“ Der Rechtsanwalt fügte an: Mit der zweiten E. angelasteten Tat, der Messerattacke auf einen irakischen Flüchtling 2016 in Lohfelden, habe E. nichts zu tun.

Verteidigerin will psychologische Untersuchung

Die Verteidigerin H.s, Nicole Schneiders, stellte den Antrag, die Aussagetüchtigkeit von E. durch einen Psychologen untersuchen zu lassen. E. versuche von sich abzulenken und Schuld H. zuzuschreiben. Mit seinem dritten Geständnis widerrief E. die früheren Versionen.

In seinem ersten Geständnis vom 25. Juni 2019 schilderte er, wie er allein zu Lübckes Haus gegangen sei und ihn erschossen habe. Sein damaliger Anwalt Dirk Waldschmidt habe ihm geraten, H. außen vor zu lassen. Im zweiten Geständnis vom 8. Januar 2020 und vom 5. Februar 2020 sagte E., er und H. hätten gemeinsam Lübcke aufgesucht, dabei habe sich aus H.s Waffe der Schuss gelöst. Diese Version sei die Idee seines damaligen Anwalts Frank Hannig gewesen, um H. zu einer Aussage zu bewegen, sagte E. (epd/mig) Aktuell Panorama

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