Leserbrief an "Chrismon"

Der christliche Märtyrer tötet nicht, der muslimische schon?

Anja Hilscher liest gerne „Chrismon“. In einer Ausgabe geht es um das Märtyrertum - das islamische töte, das christliche nicht. Hilschers Leserbrief an die Redaktion führt zu einem Austausch, wird aber nicht abgedruckt. Den letzten Leserbrief an "Chrismon" hat Anja Hilscher deshalb für das MiGAZIN geschrieben.

Von Donnerstag, 09.07.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 10.07.2020, 11:34 Uhr Lesedauer: 10 Minuten  |  

Liebe „Chrismon“-Redaktion,

in Ihrer vorletzten Chrismon-Ausgabe beschäftigten Sie sich unter anderem mit dem Thema Märtyrertum. Gegen Ende des Artikels stellten Sie in einem Absatz den islamistischen Terroristen, der andere mit in den Tod reißt, unter der Überschrift Der christliche Märtyrer tötet nicht das gewaltlose, christliche Verständnis von Märtyrertum gegenüber.

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In der Annahme, man würde sich über die Gelegenheit freuen, einen kleinen Beitrag zum interreligiösen Dialog leisten zu können, schrieb ich (Muslima) Ihnen einen zwar kritischen, aber sehr freundlichen Leserbrief. Erfahrungsgemäß werden Leserbriefe abgedruckt, wenn der Inhalt relevant und informativ ist und / oder der Verfasser eine besondere, seltene „Qualifikation“ aufweist – in diesem Fall die Zugehörigkeit zum Islam – und damit quasi über „Insiderwissen“ verfügt.

Leider wurden weder mein Leserbrief noch ein anderer ähnlichen Inhalts oder eine Richtigstellung gedruckt – was umso verwunderlicher ist, als sich trotzdem daraus eine längere Korrespondenz mit Ihrem Redakteur Burkhard Weitz entspann. Mein Ziel war es jedoch, eine breitere Leserschaft zu erreichen, so dass es mir sinnvoller erscheint, nun einen offenen Brief im MiGAZIN zu veröffentlichen. Ich bin wirklich enttäuscht vom Verhalten der Chrismon-Redaktion, wenngleich nicht wirklich erstaunt. Mein Eindruck ist, dass eine latent ablehnende Haltung gegenüber Islam und Muslimen in den letzten Jahren leider auch in christliche – und nicht nur evangelikale – Kreise längst Einzug gehalten hat, während man sich nach außen hin einen toleranten, dialogbereiten und offenen Anstrich gibt.1

Nun zum Inhalt: Meine Kritik besteht in erster Linie aus folgenden Punkten:

„Warum wird nicht erwähnt, dass auch die christlichen Kreuzritter, die im Jahre 1099 in Jerusalem ein ziemlich unschönes Blutbad anrichteten, sich durch den Einsatz ihres Lebens das ewige Paradies zu erkaufen hofften? Weil es so lange her ist? Warum werden dann die Lehren unsympathischer islamischer Theologen und Autoren aus demselben Zeitalter als in Stein gemeißelter, unveräußerlicher Bestandteil des Islams betrachtet?“

1. Warum wird im Kontext des Märtyrertums überhaupt bzw. ausgerechnet der Islam thematisiert? Herr Weitz erklärte mir dies damit, islamistische Dschihadisten bombten sich nun mal seit Jahrzehnten „in unser mediales Bewusstsein“. Wer aber prägt denn das „mediale Bewusstsein“? Tragen an dieser Tatsache, außer den Terroristen selbst natürlich, nicht auch die Medien eine Mitschuld?2

Es nimmt Wunder, dass Herr Weitz nicht erkennt, wie paradox die Chrismon-Redaktion sich verhält, wenn Sie einerseits nicht bereit ist, der Ausgewogenheit halber einen Leserbrief zu veröffentlichen, andererseits auf die Tatsache verweist, im öffentlichen Bewusstsein sei nun mal ein negatives, von Terrorattentaten geprägtes Islambild verankert, dem man Rechnung tragen müsse.

2. Warum werden Äpfel mit Birnen verglichen? Es wundert mich, dass die evangelische Kirche34 das nötig hat. Warum wird der hässlichsten Seite des Islams die schönste Seite des Christentums gegenübergestellt? Eine sehr wohlfeile Art der Selbstaufwertung, zumal in einer Zeitschrift, die wohl sehr weniger muslimische Leser hat, die möglicherweise Einspruch erheben könnten.

Warum wird nicht erwähnt, dass auch die christlichen Kreuzritter, die im Jahre 1099 in Jerusalem ein ziemlich unschönes Blutbad anrichteten, sich durch den Einsatz ihres Lebens das ewige Paradies zu erkaufen hofften? Weil es so lange her ist? Warum werden dann die Lehren unsympathischer islamischer Theologen und Autoren aus demselben Zeitalter als in Stein gemeißelter, unveräußerlicher Bestandteil des Islams betrachtet? Etwa Ibn Kathir, der die Idee des Paradieses der sexuellen Männerlüste prägte, deren Details ich dem geneigten Leser lieber erspare.

„Muslime wie ich müssen sich also immer wieder von pseudoreligiösen Massenmördern distanzieren, während evangelische Christen die Monstrositäten, die im Namen ihrer Religion begangen werden, geflissentlich ignorieren.“

Auf meine Frage, wie Herr Weitz denn zum Thema KuKluxKlan, fanatischen Abtreibungsgegnern oder Breivik stehe, der sich immerhin als „hundertprozentigen Christen“ bezeichnete und eine christliche Version der Al-Qaeda anstrebte, erhielt ich keine Antwort. Muslime wie ich müssen sich also immer wieder von pseudoreligiösen Massenmördern distanzieren, während evangelische Christen die Monstrositäten, die im Namen ihrer Religion begangen werden, geflissentlich ignorieren. Naja…

So ganz unberechtigt ist die (fehlende) Reaktion tatsächlich nicht. Die überwiegend christliche Bevölkerung möchte ja ohnehin glauben, dass ihre Religion für Liebe und Frieden steht. Was soll man da dann noch groß palavern? Ebenso möchte die überwiegend christliche Leserschaft (zum Teil natürlich unbewusst) glauben, dass der, für das bedrohliche Andere stehende, unaufgeklärte Islam Gewalt und Barbarei predigt. Deshalb besteht da etwas mehr Erklärungsbedarf. Schade nur, dass es niemand hören oder drucken will. Quod erat demonstrandum.

Warum – wenn man schon den Islam zum Zwecke der eigenen Aufwertung heranziehen muss – wird nicht zumindest in einem Halbsatz darauf hingewiesen, dass es auch Abertausende von muslimischen Märtyrern gab und gibt, die gewaltlos für ihre Überzeugungen starben und sterben? Angefangen von den Mystikern, wie etwa dem Sufi Al-Halladsch, der für seine Aussage „An-al-Haqq“ – „Ich bin die absolute Wahrheit“ – mit dem Leben bezahlen musste.5 Weiterhin hätte man zumindest kurz die lange Zeit hinweg verfolgten Schiiten erwähnen können. Bis hinein in die heutige Zeit gibt es Märtyrer, die für ihren Glauben sterben, besonders durch die Hand von Fanatikern: Letztere halten ja praktisch alle, die eine abweichende Meinung vertreten, für todeswürdige Ketzer. Besonders aber werden Christen und religiöse Minderheiten verfolgt, wie etwa die Ahmadiyya-Muslim-Gemeinde. Deren einziges Vergehen besteht übrigens darin, den Koranvers über die Entgültigkeit des Prophetentums anders zu interpretieren – ansonsten praktizieren sie einen völlig normalen, friedlichen, aufklärungskompatiblen, sunnitischen Islam (mit der Tendenz zu sufistischen Auslegungen). Vor einigen Jahren starben während eines Attentats auf zwei Ahmadiyya-Moscheen Aberdutzende Muslime. Bombte sich dieses Attentat ins „mediale Bewusstsein? Natürlich nicht, mangels Interesse auf Seiten der Medien. Sind diese Opfer keine Märtyrer? Wenn nein, wer entscheidet das? Abu Bakr al Baghdadi? Pakistanische Mullas? Oder hiesige Medien, die andere islamische Stimmen nicht zu Wort kommen lassen? Islamfeindlich gesonnenen Menschen scheint die Idee, die Interpretationshoheit über bestimmte Begriffe den Dschihadisten zu überlassen, gut zu gefallen.

Aus dem Koran: „Die Erlaubnis sich zu verteidigen ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht geschah. Siehe, Gott hat die Macht, ihnen beizustehen. Jenen, die ohne Recht aus ihrer Wohnstatt vertrieben wurden, nur weil sie sprachen:“ Unser Herr ist der eine Gott. „Und hätte Gott nicht die Menschen, die einen durch die anderen zurückgehalten, zerstört worden wären Klöster, Kirchen, Synagogen und Moscheen, in denen der Name Gottes oft genannt wird. Gott wird fürwahr dem helfen, der ihm hilft.“ (22:40)

Wenn man durchaus einen Unterschied zwischen Islam und Christentum konstruieren möchte, dann könnte er darin bestehen, dass dem Islam zufolge ein Märtyrertum, also das Sterben auf dem Wege Gottes, nicht unbedingt kampflos geschehen muss. Es gibt 1001 Wege zu Gott, und es gibt, nach islamischer Vorstellung, 1001 Arten, sein Leben für die „gute Sache“ zu lassen und so zum Märtyrer zu werden. Nur eine einzige Weise ist dabei nicht kampflos, und das ist nicht unbedingt die spirituell angesehenste: Die des Sterbens in einem Verteidigungs(!)krieg. In Sure 22 wird den Muslimen, nach 13 Jahren bitterster Verfolgung, das Recht auf Verteidigung zugestanden.

Ein Muslim, der sein Leben in einem verzweifelten Kampf gegen übermächtige Aggressoren, sagen wir, die damaligen Mekkaner oder „Daesh“ (der sogenannte „islamische Staat“) führt, um nicht nur das Leben seiner Angehörigen zu retten, sondern auch, weil er für die Glaubensfreiheit Andersdenkender, etwa Christen, Jeziden oder weniger frommer Muslime, kämpft, ist aus meiner Sicht ein Märtyrer. Was sonst? Wäre es, spirituell betrachtet, eine größere Leistung, „passiven Widerstand“ zu leisten und mit gefalteten Händen, betend und singend, das Ende zu erwarten? Ich mag darüber nicht urteilen, aber ich glaube, dass „Gewaltlosigkeit“ – ein Wort, was nach moralischer Überlegenheit klingt – nicht immer sinnvoll ist.

„Es gibt also tatsächlich im Islam einen Märtyrertod durch physischen Kampf im Islam. Allerdings ist der „kleine Dschihad“ – nämlich der auf dem Schlachtfeld – sozusagen einer für Anfänger.“

Es gibt also tatsächlich im Islam einen Märtyrertod durch physischen Kampf im Islam. Allerdings ist der „kleine Dschihad“ – nämlich der auf dem Schlachtfeld – sozusagen einer für Anfänger. Es gibt zahlreiche andere Arten, sein Leben für Gott zu lassen. Der größte Dschihad ist der, dem der längste und steinigste Weg der Selbsterkenntnis vorausging: Einem Hadith zufolge ist es der alltägliche Kampf gegen den eigenen Schweinehund. Damit ist weit mehr gemeint als das Überwinden von Angst oder Geiz und Faulheit bei der Verrichtung der islamischen Gebote. Es geht darum, die Seele wirklich auf Hochglanz zu polieren, sich selbst durchschauen zu lernen: Fadenscheinige Begründungen und vorgeschobene Motive zu erkennen und zu dieser Wahrheit zu stehen – komme, was da wolle. Und sei es der Tod.

Es gibt Tode, die sehr unspektakulär daherkommen. Ist es übertrieben, im Falle von Krankenschwestern (-pflegern), die sich im täglichen Kampf gegen Leid und Tod selbst eine tödliche Krankheit einfangen, von „Märtyrern“ zu sprechen? Nicht im Geringsten! Im Gegenteil – meiner Ansicht nach erhöht gerade die Tatsache, dass es eine wenig ruhmreiche, kaum beachtete und häufig zu findende Weise ist, ihr Verdienst.

Im Islam wird übrigens ausdrücklich darauf hingewiesen, dass männertypische „Leistungen“ keineswegs höherwertig sind als frauentypische. Andererseits gibt es keine strikte Trennung der Aufgabenbereiche. Es gibt in Schlachten ziehende Frauen ebenso wie zu Hause im Alltag sich ihr „Verdienst erwerbende“ Männer: Ein junger Mann kam, einem Hadith zufolge, zum Propheten und bat darum, auf dem Schlachtfeld gegen die mekkanischen Angreifer kämpfen zu dürfen. Der Prophet fragte ihn, ob er Eltern habe, die seiner Hilfe bedürften. Als der Mann dies bejahte, schickte Mohammad ihn nach Hause, mit dem Hinweis, dass die Pflege seiner Eltern sein Dschihad sei.

„Ich persönlich kann in keinster Weise nachvollziehen, warum man durchaus unterscheiden möchte zwischen christlichen und islamischen Märtyrern. Ich weiß überhaupt nicht, warum man gerade über ein Thema, das so viel Demut abnötigt, ideologische und religiöse Grabenkämpfe führen muss. „

Weiteren Überlieferungen zufolge gelten Frauen, die während der Geburt sterben, als Märtyrerinnen. Wird damit die Idee des Märtyrertodes „banalisiert“? Das dünkt mich eine sehr frauenfeindliche Einstellung, die im Kontrast zur islamischen Lehre steht. Eva ist im Islam nicht die Verführerin Adams, und die Frau nicht die Quelle aller Sünde, sondern vielmehr die „Zwillingshälfte“ des Mannes, deren Arbeit zwar oft anders, nicht aber minderwertig ist.

Ich persönlich kann in keinster Weise nachvollziehen, warum man durchaus unterscheiden möchte zwischen christlichen und islamischen Märtyrern. Ich weiß überhaupt nicht, warum man gerade über ein Thema, das so viel Demut abnötigt, ideologische und religiöse Grabenkämpfe führen muss. Es ist doch ein recht infantiles und pharisäerhaftes Verhalten, überhaupt darüber urteilen bzw. dieser oder jener weltlichen Instanz die Entscheidungshoheit zubilligen zu wollen, wer in den Augen Gottes (an den Sie doch vermutlich auch glauben, liebe Chrismon-Redaktion?) ein Märtyrer sei. Wir können nur mutmaßen

Mein Lieblingsmärtyrer ist jedenfalls eine Frau. Und zwar eine jüdische, nämlich Kafkas kleine Schwester Ottla. Sie begleitete, wie Janusz Korczak, eine Gruppe von Kindern aus dem Waisenhaus, freiwillig mit nach Auschwitz. Kennt jemand diese Frau? Hat sie es bis in unser „mediales Bewusstsein“ geschafft? Wohl kaum, aber das ist unwichtig! Es gibt einen, der sie kennt.

Mit freundlichen Grüßen

Anja Hilscher

  1. Dies soll aber keine Verallgemeinerung sein! Ich bitte um Entschuldigung, sollte ich dem ein oder anderen freundlich gesonnenen Christen auf die Füße treten und gebe zu, dass aus meinen Worten reichlich Frustration spricht.
  2. Diese Frage ist rhetorischer Art. Über die unverhältnismäßig negative und einseitige, oft hetzerische Darstellung des Islams in den Medien wurden nämlich inzwischen zahlreiche Bücher, Diplom- und Doktorarbeiten geschrieben: etwa die Dissertation von Dr. Sabine Schiffer aus dem Jahr 2004.
  3. Chrismon ist eine Zeitschrift der evangelischen Kirche.
  4. Die Evangelische Kirche, eine nicht nur einflussreiche, sondern mir persönlich auch sympathische Institution mit einer grundsätzlich sympathischen Lehre mit zahlreichen sympathischen Repräsentanten.
  5. Würde man es mit dem interreligiösen Dialog ernst meinen, könnte man dann sogar noch einen Schritt weiter gehen und auf die frappierende Ähnlichkeit dieses Satzes mit dem viel zitierten Satz Jesu „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ hinweisen.
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  1. Olesia sagt:

    Vielen Dank für diesen Brief! Er hat mich (christlich-geprägte Agnostikerin) sehr berührt. Machen Sie bitte weiter so, auch wenn es anstrengend ist!

  2. A.F:B. sagt:

    Sogenannte Selbstmordanschläge sind im Islam sehr umstritten, und als Grundregel gilt, daß Selbstmörder nicht ins Paradies kommen, sondern in die Hölle. So wird überliefert, daß einer der Muslime, der in einer Schlacht tapfer gekämpft hatte, so schwer verwundet worden war, daß er sich, um seine Schmerzen zu beenden, ins eigene Schwert stürzte und sich das Leben nahm. Als dem Propheten davon berichtet wurde, bestätigte er, daß dieser Mann in die Hölle komme.
    Selbstmordaktionen gegen den Feind waren in den Anfängen des Islams noch unbekannt. Erst die Kharadischiten, die sich als erste Gruppe vom frühesten Islam abspalteten, führten diese ein. Drei von ihnen verabredeten sich, die drei damaligen politischen Führer der Muslime am selben Tag an verschiedenen Orten zur selben Zeit, zum Frühlichtgebet in der Moschee zu ermorden, aber nur der Anschlag auf den Kalifen Ali war erfolgreich. Diesen Leuten war bewußt, daß sie nicht lebend entkommen würden, da man sie in Abwehrreaktion entweder sofort töten oder später zum Tode verurteilen und hinrichten würde. Der Mörder Alis meinte jedoch, er würde für diese seine Tat ins Paradies kommen und bekundete diese seine Meinung, nachdem er festgenommen worden war. Einige Jahrhunderte später machten die zur ismailitischen Schia gehörigen Assassinen durch ihre Selbstmordanschläge von sich reden. Mehrere heutige Gelehrte haben dreißig Gemeinsamkeiten jener Kharidschiten mit den Angehörigen der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) gefunden. Auffällig ist, daß sie inquisitorisch Muslime nach ihrer Glaubenslehre befragen, als vom Islam Abgefallene ansehen, wenn diese nicht mit ihrer eigenen übereinstimmt, und sie auf dieser Grundlage töten, während sie Angehörige der anderen Offenbarungsreligionen, wie Christen und Juden laufen lassen, da diese gewissermaßen Narrenfreiheit besitzen. Der syrische Sufi-Scheich Muhammad al-Ya´qûbî, der ein Buch zur Widerlegung von Dâ´isch (IS) geschrieben hat, meint, wer im Kampf gegen diese Terrororganisation getötet wird, sei als Märtyrer anzusehen, aber die anderen Muslime sollten nicht Gleiches mit Gleichem vergelten und die Dawâ´isch nicht als Ungläubige ansehen, auch wenn sie alle anderen Muslime, die nicht ihrer Meinung folgen, als Ungläubige ansehen. Dasselbe tat auch der Kalif Ali mit den Kharidschiten und verwehrte ihnen nicht den Zugang zu seiner Moschee, solange sie sich friedlich verhielten.
    Ansonsten gilt die Ansicht, daß Selbstmordanschläge nur auf militärische Ziele erlaubt sind, und dann nur, wenn es entscheidend ist, dem Feind damit einen empfindlichen Schlag zuzufügen und dies nicht ohne dieses Opfer durchführbar ist. Nach mehrheitlicher Meinung der Gelehrten sind Angriffe auf Zivilisten streng verboten. Es gilt im Islam die Grundregel, daß es besser ist, Unrecht zu erdulden, anstatt Unrecht zuzufügen. Ein den bewaffneten Dschihâd führender Muslim muß sich daher bewußt sein, was er tut und stets bemüht sein, bei seinen Handlungen niemandem ein Unrecht zuzufügen. Um zu wissen, was als Unrecht angesehen wird, hat er zuvor bei qualifizierten Gelehrten die Regeln des Dschihâd zu erlernen, was bei den Mitgliedern des IS jedoch nicht geschehen ist. Stattdessen wurden sie von ihren Ausbildern desinformiert.
    Der Prophet des Islams hat den Kreis der Märtyrer noch erweitert, indem jeder Muslim, der wegen seines Muslimseins getötet wird, auch wenn er nicht kämpft, ja sogar jemand, der in Verteidigung seines Besitzes getötet wird, an einer Seuche oder als Schüler oder Student beim Erwerb von Wissen stirbt, als Märtyrer gilt. Die vor zehn Jahren in Dresden im Gerichtssaal ermordete Ägypterin Marwa Scherbini fand zweifellos den Märyrertod. Man braucht nicht mit der Waffe zu kämpfen und dabei Gefahr zu laufen, anderen Unrecht zuzufügen, um Märtyrer zu werden. Es genügt, von irgendeinem durchgedrehten Muslimhasser erstochen oder erschossen zu werden, nur weil man Muslim ist. Der bekannte aus Córdoba stammende mittelalterliche Koranexeget al-Qortobi erwähnt, daß sein Vater während eines kriegerischen Überfalls der Christen auf seine Heimatstadt getötet worden war, und, wäre er damals bereits ein Gelehrter gewesen, er ihn als Märtyrer und nicht als gewöhnlichen Toten behandelt und beigesetzt haben würde.
    Einige in den früheren monotheistischen Religionen für ihren Glauben gestorbene Personen können als Märtyrer im Islam angesehen werden, wie z. B. jene Juden, die zur Zeit der griechischen Herrschaft über Palästina getötet wurden, weil sie sich weigerten, Schweinefleisch zu essen oder ihre Knaben beschnitten hatten. Auch manche frühe Christen, die für ihren Glauben ihr Leben ließen, gehören dazu.
    Noch ein Hinweis: Die Ahmadiyya sind unserer Überzeugung nach keine Muslime, auch wenn sie sich irreführenderweise selbst als solche bezeichnen, da sie eine wesentliche islamische Glaubenslehre abstreiten, bzw. zu verdrehen suchen. Trotzdem berechtigt das nicht, Gewalt gegen sie anzuwenden.

  3. Matthias sagt:

    Sehr geehrte Frau Hielscher,

    Ihr Beitrag hat mein Interesse geweckt und so habe ich mich mit dem Chrismonartikel beschäftigt. Zur Frage warum ein Leserbrief nicht abgedruckt wird, kann ich nichts sagen, bedauerlich ist es. Aber zu Ihrem Artikel möchte ich durchaus etwas sagen.

    Ich empfinde es nicht so, dass Chrismon den Muslimischen Gewalttäter in Vergleich zu christlichen Märtyrern setzt. Klar ist dort aber, wer tötet ist im evangelisch christlichen Sinne kein Märtyrer. Sehe ich auch so.

    Wir wissen ja, dass in der evangelischen Kirche ein Märtyrertum mit Verehrung in dem Sinne nicht stattfindet. Die Kreuzfahrer werden an keiner Stelle als Märtyrer bezeichnet, insofern hinkt der Vergleich.

    Dass ein Vergleich zu den islamistischen Terroristen gezogen wird, die sich selbst als Märtyrer bezeichnen, ist aber angebracht. Denn Christen, die ausschließlich aus religiösen Gründen morden, gar einen Gottessaat propagieren, sind nicht vorhanden. Den evangelischen Gottesstaat gibt es nicht, Islamische Republiken, sowohl schiitisch als auch sunnitisch hingegen schon. Diese Staaten, wie die islamische Republik Iran, die islamische Republik Afghanistan, die islamische Republik Afghanistan, etc. sind aber durchaus präsent. Es ist schon ein Unterschied, ob ein Staat den Koran oder die Schaaria als Staatsrecht ausruft oder ob ein Staat explizit die freie Religionsausübung als Grundrecht propagiert.

    Daher sehe ich den Inhalt des Chrismonartikels nicht wirklich als diskrminierend an.

    • Anja Hilscher sagt:

      Liebe Olesia, herzlichen Dank für Ihr positives Feedback und Ihren Zuspruch!

      Lieber Herr Matthias, es ist die Regel, dass Nichtbetroffene selten erkennen können, warum sich andere Menschen diskriminiert fühlen. Der Punkt ist: Die Betroffenen erleben gewisse Dinge nicht zum ersten, sondern zum tausendsten Mal und sind nicht nur sensibler,sondern auch kompetenter in diesen spezifischen Bereichen, mit denen sie sich nolens volens tagtäglich auseinandersetzen. Sie sagen, es gebe keine Christen, die ausschließlich aus religiösen Gründen morden? Das entspricht nicht den Tatsachen. KuKluxKlan Mitglieder sind zum großenTeil nicht nur mordende Rassisten, sondern auch tief religiöse Christen, ebenso wie militante Abtreibungsgegner. (Ich empfehle dazu das Buch „Black like me“ von John H. Griffin) Eine der einflussreichsten Organisationen der christlichen Rechten, AFA, verteilt schon mal Handouts mit der Anleitung zur „spirituellen Kriegsführung“ .Vielleicht erinnern Sie sich auch, dass George Bush, ein sehr religiöser Mann, seine Kriege zu „Kreuzzügen“ erklärte? Der Massenmörder Breivik bezeichnete sich als „hundertprozentigen Christen“

      Nun können wir uns vielleicht darauf einigen, dass diese Menschen unserer Ansicht nach „gar keine richtigen Christen“ seien. Dann möchte ich aber auch darauf bestehen, dass nicht nur islamische Dschihadisten, sondern auch Wahabiten, die einen gewalttätigen, intoleranten, völlig seelenlosen Gesetzesislam propagieren, in etwa so vorbildliche Muslime sind wie Kim Jong un ein vorbildlicher Demokrat. Dass sich der Iran, ein Land, das soeben drei Demonstranten zum Tode verurteilt hat, die gegen die Benzinpreiserhöhung protestiert haben, als ‚islamischen Gottesstaat‘ bezeichnet, ist traurig. Mit meiner Religion hat das aber ebenso wenig zu tun wie der Klu Klux Klan mit Ihrer. Ich möchte darum bitten, nicht mit zweierlei Maß zu messen.

      Und: Ja, die Kreuzritter galten, gemäß dem Professor für mittelalterliche Geschichte, Thomas Asbridge, quasi als Märtyrer. Dass es im Katholizismus, Protestantentum, schiitischem und sunnitischen Islam jeweils leicht unterschiedliche Definitionen gibt, steht auf einem anderen Blatt. Die Rechnung:Christentum=friedlich Islam= gewalttätig geht jedenfalls nicht auf. Es sei denn, man schert Lehre und Praxis über einen Kamm und pickt sich überdies just jene Teile raus, die ins eigene Weltbild passen.

      Viele Grüße, Anja Hilscher

      • Matthias sagt:

        Liebe Frau Hilscher,

        zunächst sehr herzlichen Dank für Ihre nette und ausführliche Antwort zu meinem Kommentar. Wir liegen inhaltlich nicht weit auseinander, zumindest nehme ich das so war.

        Ich möchte im Einzelnen einige Dinge anmerken:

        Zitat:
        Sie sagen, es gebe keine Christen, die ausschließlich aus religiösen Gründen morden? Das entspricht nicht den Tatsachen. KuKluxKlan Mitglieder sind zum großen Teil nicht nur mordende Rassisten, sondern auch tief religiöse Christen, ebenso wie militante Abtreibungsgegner.

        Also der KuKluxKlan ist für mich in erster Linie rassistisch unterwegs, natürlich sind diese Menschen zu einem großen Teil Christen.

        Aber was ist das Leitmotiv dieser Menschen? Geht es um Errichtung eines Gottesstaates wie etwa bei den Selbstmordattentätern des IS? Oder geht es um die Durchsetzung einer rassistischen Ideologie?

        Ich vermute letzteres und damit liegt ein für mich doch deutlichen Abgrenzungskriterium vor. Wir dürfen nicht bei jeder Straftat die Motive auf das Religiöse reduzieren, es sei denn dies ist das einzige Motiv.

        So auch Breivik. Absolut Verurteilungswürdig. Aber er hat aus Rassenhass heraus gemordet, nicht aber aus seiner Liebe zu Jesus Christus heraus.

        Auch hier sehe ich einen klaren Unterschied zu denjenigen, die allein im Namen einer Religion morden oder sich selbst umbringen.

        Wir sind uns auch einig, dass die Kreuzfahrer aus heutiger Sicht keine Märtyrer sind. Zumindest nicht im Zusammenhang mit der evangelischen Kirche, die hier in Abrede steht. Und Sie vergleichen das aktuelle Märtyerertum der radikalen Islamisten, mit dem mehr als tausend Jahre altem Märtyrertum der katholischen Kirche. Das sind Äpfel und Birnen. Und damit möchte ich weder das eine noch das andere rechtfertigen.

        Diskriminierung ist Gleiches, ungleich zu behandeln. Das heißt im Umkehrschluss, dass Ungleiches auch ungleich behandelt wird, ohne Diskriminierung darzustellen.
        Das heißt für mich auch, dass Menschen sich zu Recht diskriminiert fühlen dürfen, es aber nicht zwangsläufig und immer diskriminierend sein muss.

        Wenn ich mir nun die Zahl der Selbstmordattentäter (aus deren eigenem Verständnis = Märtyrer) von muslimischer Seite im Jahr 2019 ansehe und diese mit den christlichen Selbstmordattentätern vergleiche, komme ich zu dem Ergebnis, dass es doch mehr von muslimischer Seite als von der hier in Rede stehenden evangelisch-christlichen Seite gibt. Ist da wirklich Diskriminierung vorhanden, wenn es Autor dies so wiedergibt?

        • Anja Hilscher sagt:

          Lieber Matthias, denken Sie wirklich, Muslime werden Ihnen mehrheitlich darin zustimmen, dass radikale Dschihadisten religiös motiviert sind? Die weit überwiegende Mehrheit der Kämpfer sind -Studien belegen das – religiös völlig unvorbelastete und ahnungslose Menschen, oft mit krimineller Vorgeschichte, die psychische Probleme oder Identitätsprobleme mit der blinden Identifikation mit einer pseudoreligiösen, poltischen Ideologie zu kompensieren versuchen. Diese hat absolut nichts mit der Lehre des Korans und der frühislamischen Praxis zu tun! Gehen Sie in eine x-beliebige Moschee am 03.10. (Tag der offenen Moschee) und fragen Sie Theologen und Imame. Sie werden Ihnen dasselbe sagen. Viele Grüße, Anja Hilscher