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Lernen (Symbolfoto) © picjumbo_com @ pixabay.com (Lizenz), bearb. MiG

Eine Katastrophe

Internet-Unterricht erreicht sozial benachteiligte Kinder nicht

Vor mehr als drei Wochen begann in Deutschland ein großes bildungspolitisches Experiment, als wegen der Corona-Pandemie alle Schulen schlossen: Zwar funktioniert das Lernen von zu Hause mehrheitlich gut, aber die ohnehin Benachteiligten trifft es am härtesten.

Von Donnerstag, 09.04.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.04.2020, 22:38 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Manchmal sieht Christiane Steinhauer (Name geändert) ihre Schützlinge jetzt schon morgens um sieben Uhr auf den Spielplätzen. „Sie wissen, das Ordnungsamt kontrolliert so früh noch nicht“, erzählt die Schulsozialarbeiterin einer Brennpunktschule aus Baden-Württemberg. Manche der Kinder leben in Familien, in denen sich zehn Personen eine Drei-Zimmer-Wohnung teilen müssen. Viele haben weder Handy noch Laptop. Das sind keine guten Voraussetzungen, um bis zum Ende der Corona-Krise selbstständig zu Hause zu lernen. Auch Lehrkräfte schlagen Alarm: Eine nennenswerte Zahl der Schüler ist seit Wochen praktisch nicht mehr auffindbar.

Seit Mitte März befindet sich das gesamte Schulsystem bundesweit im Ausnahmezustand. Bis auf eine Notbetreuung bleiben alle Schulen geschlossen, stattdessen senden die Lehrer ihren Klassen Aufgaben nach Hause und bleiben über Schul-Portale im Internet in Kontakt. „Meine Bilanz sieht trotz der schwierigen Umstände sehr, sehr positiv aus“, sagt Stefanie Hubig, rheinland-pfälzische Bildungsministerin und aktuelle Vorsitzende der Kultusministerkonferenz. Aber selbst sie räumt ein, dass sich ihr Ministerium Sorgen um Familien mache, die „digital nicht gut ausgestattet“ sind oder die ihren Kindern nicht die nötige Unterstützung geben können.

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Ein Schulleiter aus Rheinhessen wird deutlicher. Von manchen Schülern gebe es seit Schließung der Schule keinerlei Rückmeldung mehr. E-Mails gingen ins Leere, auch telefonisch seien einige Familien nicht zu erreichen. „Noten, Zeugnisse und Versetzungen – solche Dinge lassen sich irgendwie regeln“, sagt er. „Aber das ist eine echte Katastrophe.“

Migranten mehrfach benachteiligt

Info: Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) hat auch sein Papier „Ungleiche Bildungschancen. Fakten zur Benachteiligung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem“ aktualisiert. Es kann hier abgerufen werden.

Auch der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) warnt. Die aktuelle Situation stelle Kinder und Jugendliche, das Lehrpersonal sowie Eltern vor große Herausforderungen und drohe, die soziale Ungleichheit bei der Bildung zu verschärfen. „Kinder von Flüchtlingen und von Neuzuwanderern sind in der aktuellen Corona-Krise gleich mehrfach benachteiligt. Sie brauchen jetzt besondere Unterstützung“, sagt Prof. Dr. Birgit Leyendecker, SVR-Mitglied und Entwicklungspsychologin. Die meisten digitalen Angebote setzten voraus, dass Familien über die entsprechende technische Ausstattung verfügen, was oft nicht der Fall sei.

Rheinland-Pfalz hat als Sofortmaßnahme inzwischen beschlossen, dass rund 25.000 in den Schulen und kommunalen Medienkompetenz-Zentren eingelagerte Rechner an Schüler ausgeliehen werden können. Hubig ist auch offen für den Vorschlag, armen Familien die Anschaffung der nötigen Technik für ihre Kinder zu finanzieren. Derzeit sei das im Bildungs- und Teilhabepaket des Bundes ausdrücklich nicht vorgesehen.

Nicht erreichbare Kinder

Julia Netzer, Förderschullehrerin aus Hessen, macht in der Corona-Krise auch gegenteilige Erfahrungen. Sie unterrichtet gewöhnlich eine Klasse, in der es allein sechs Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gibt, und eigentlich hätte sie vor Ostern das Thema „Mittelalter“ behandelt. Der geplante Bau einer Ritterburg aus Pappe sei nun zum Projekt für zu Hause geworden, die Ergebnisse könnten sich sehen lassen. Manche hätten in der Corona-Krise sogar mehr gearbeitet, als sonst in der Schule.

Aber auch bei ihr fallen Schüler durch das Raster. Bei fünf aus einer elfköpfigen Gruppe wisse sie nicht, ob die seit Mitte März überhaupt etwas gelernt hätten. Ein Kind, das gar nicht erreichbar sei, komme aus einer Familie, in der kaum jemand lesen und schreiben könne: „Da nützt es auch nichts, wenn ich Arbeitsblätter per Post schicke.“

Es trifft die ohnehin Benachteiligten

„Es trifft die Schicht, die schon immer benachteiligt war“, sagt Christiane Steinhauer resigniert. Sie erlebt bei vielen Verantwortlichen den Wunsch, die Krise ohne viel Mühe auszusitzen und vielleicht noch etwas Geld zu sparen. So wurde ihre Arbeitszeit nach Schließung der Schulen sofort um 50 Prozent gekürzt, obwohl viele Schüler gerade in der häuslichen Enge einen Ansprechpartner bräuchten. Als sie den Kindern ihrer Schule „Mutmacherbriefe“ schicken wollte, bekam sie keine Adressen – offiziell wegen Datenschutzbedenken. Kontakt zu den Schülern hält sie jetzt nur noch über WhatsApp, obwohl die Nutzung der problematischen App im Schuldienst verboten ist.

„Vielen Schülern geht es psychisch nicht gut“, sagt die Sozialarbeiterin. Weil sie es zu Hause oft nicht aushielten und die Arbeitsaufträge der Lehrer nicht verstehen könnten, gebe es für viele nur einen Ausweg – den Erwachsenen so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen und so zu tun, als seien Ferien.

Wenn Eltern Hausaufgaben nicht verstehen

Ähnliche Sorgen äußert auch SVR-Mitglied Leyendecker. „Die Schulschließungen verschärfen die ohnehin bestehende Ungleichheit von Bildungschancen, und zwar bei einheimischen wie zugewanderten Kindern und Jugendlichen“. Kinder aus Zuwandererfamilien stünden vor besonderen Herausforderungen, wenn beispielsweise ihre Eltern ihnen aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht beim Lernen helfen können.

„Kinder erhalten in der Schule nicht nur formale Bildung, sondern auch Struktur und emotionale Unterstützung. Pädagoginnen und Pädagogen müssen gerade in dieser Zeit weiterhin engen Kontakt zu diesen Kindern und ihren Familien halten, damit diese die nächsten Wochen und Monate gut überstehen. Wir dürfen sie nicht alleine lassen“, so Entwicklungspsychologin Leyendecker. (epd/mig) Leitartikel Panorama

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