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Kinder im griechischen Flüchtlingslager Moria in Lesbos (Archiv) © Tim Lüddemann @ flickr.com (CC 2.0), Tim Lüddemann

Corona ändert alles

Europas Flucht vor seinen Außengrenzen

Seit Jahren verschlechtert sich die Situation in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln. Die Campbewohner sind staatlicher und paramilitärischer Gewalt schutzlos ausgesetzt. Jetzt werden die Menschen wieder allein gelassen: beim Warten auf Corona.

Von Mittwoch, 25.03.2020, 5:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 24.03.2020, 15:21 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

„Die Menschen hier haben keine Rechte“, lautet das vernichtende Urteil von Stefan* bei einer Zigarette mit Blick auf das Lager der Insel Samos. Der 28-Jährige aus Deutschland steht auf einem Balkon in der Mittagssonne und gehört wie ich zu einer Gruppe von humanitären Helfern auf der Insel. Er kennt viele Zahlen und vor allem Menschen, die ausharren müssen, weil sie zum Teil mehrere Jahre auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge warten müssen. Die NGOs und ihre Volunteers bieten Wäschereien, Mahlzeiten, Rechtsberatungen und medizinische Hilfe, weil von staatlicher und europäischer Seite fast nichts für würdevolle Lebensbedingungen getan wird.

„Ursprünglich war der Plan, dass die Menschen maximal 7 Tage hierbleiben, bevor sie weiter ans Festland transferiert werden“, lacht Stefan zynisch. In dem für maximal 650 Menschen ausgelegten Camp leben heute ca. 7.500.

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Es war der 29. Februar und wir wussten noch nicht, was uns in den nächsten Wochen erwarten würde.

Rechtlosigkeit in Europa

Die europäischen Staaten nahmen in der Vergangenheit bei dem Thema „Flucht und Migration“ den Inhalt der Römischen Verträge nicht ganz so genau. Diese gelten als Verfassung der EU, beinhalten die Verpflichtung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und sind geltendes Recht für alle Mitgliedsstaaten. 2015 hat Österreich als erster Staat seine Grenzen geschlossen und damit gegen eine der fundamentalsten Grundfreiheiten der EU verstoßen. Seit 2018 weigert sich Italien regelmäßig Schiffe mit geretteten Menschen in den Hafen zu lassen. Jetzt im März 2020 ist es erst Griechenland, dann Ungarn, die das Menschenrecht auf Asyl aussetzen.

Wenn das Menschenrecht ausgesetzt ist, besitzen Schutzsuchende, die vor Folter, Hunger, Krieg, politischer oder religiöser Verfolgung fliehen, kein Anrecht auf Asyl. Es ist der rechts-konservative Premierminister Griechenlands Kyriakos Mitsotakis, der diesen Schritt geht. Er, der auch angekündigt hatte, 10 000 Menschen Anfang des Jahres von den griechischen Ägäis-Inseln ans Festland zu transferieren. Bis heute wurden keine Menschen von den Inseln evakuiert. Mehr noch, die Zahlen der Schutzsuchenden sind kontinuierlich gestiegen und die Versorgung auf den Inseln ist mangelhaft bis menschenunwürdig.

„Wo warst du?“, frage ich Mohammed*, den ich einen Tag lang nicht in Samos Stadt gesehen habe. „Ich musste meinen Ausweis verlängern und habe dafür 20 Stunden warten müssen“, entgegnet mir der sichtlich müde Mann aus dem Irak. Alle zwei Wochen müssen die Campbewohner ihren Ausweis verlängern. Eigentlich handelt es sich dabei nur um ein „police paper“, das die Daten der Person wiedergibt. Manchmal nehmen Müdigkeit und Hunger überhand, weshalb die Menschen ihre Papiere nur verspätet aktualisieren. Das kann allerdings schlimme Folgen für den Asylantrag haben.

Faschos jagen alle Anderen

In den ersten zwei Märzwochen brannten auf Samos zwei Autos von humanitären Helfern. Auch die Scheiben eines Wohnhauses von Freiwilligen wurden eingeworfen. „Das bisschen Vandalismus“ trübte jedoch nicht die gute Stimmung zwischen NGOs und Inselbewohnern.

Auf Lesbos hingegen verlor die Polizei zeitgleich teilweise das Gewaltmonopol. Faschisten errichteten Straßensperren und gingen auf Jagd gegen alle, die ihrer Meinung nach anders sind. Humanitäre Hilfsorganisationen mussten ihre Hilfe einstellen, Journalisten im Hotel Schutz suchen. Gleichzeitig hinderten Einwohner von Lesbos Flüchtlingsboote daran, am Hafen anzulegen. Die Küstenwache schüchterte Menschen in Seenot mit Feuerschüssen ein, hielt Munitionstrainings in Richtung der Fluchtrouten ab und die Grenzpolizei erschoss einen Mann bei der Grenzüberquerung.

Und die Reaktion aus Brüssel? 700 Millionen Euro Soforthilfe für den Grenzschutz und ein persönlich überbrachtes Dankeschön der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Dafür, dass Griechenland in diesen Zeiten das Schild Europas ist. Gegen wen nochmal?

Gegen Menschen wie Amar*. „Ich bin zum zweiten Mal hier. Meine ganze Familie ist in Deutschland. Auch ich habe dort acht Jahre gelebt, aber wurde abgeschoben. Mein ganzes Leben, meine Zukunft, alles ist dort“, erklärt er mir bei einer Zigarette vor der Wäscherei. Seine Geschichte ist kein Einzelfall und erzählt von spitzfindigen bis willkürlichen, deutschen Ausländerbehörden.

Corona ändert alles

Als in Italien bemerkt wird, dass viel zu langsam, viel zu spät auf die Ausbreitung des Virus reagiert wurde, handelt die griechische Regierung so schnell wie kaum ein anderer Staat. Sie schließt schon bei einer Anzahl von 89 bekannten Corona-Fällen im ganzen Land alle Bildungseinrichtungen. Dazu zählen auch die NGOs, die mit ihren Einrichtungen den Menschen im Camp das Leben erleichtern.

Die kostenlosen Bildungsangebote, die Rechtsberatung und die wandernden Clowns müssen ihre Arbeit niederlegen. Auch das „Restaurant“, das für die Menschen aus dem Lager, vorrangig aber für Schwangere und Kranke zusätzliche Mahlzeiten anbietet, muss schließen. Die griechische Regierung erlaubt keine öffentlichen Versammlungen, während sich die Schüler der Insel in den Cafés und echten Restaurants ihre schulfreie Zeit vertreiben.

Die Helfer stehen vor der Frage, ob sie gehen oder bleiben sollen. Bleiben sie, können sie nicht weiterarbeiten, gehen sie, wird die Situation für die Menschen im Camp erst recht nicht besser.

Konsequenz wichtiger denn je

„So oder so, die Menschen begegnen sich den ganzen Tag“, weiß auch Stefan* zwei Wochen später am 13.3., wieder auf dem Balkon den Blick in Richtung Camp gerichtet. Sie leben eng auf eng, insgesamt über 7.500 registrierte Campbewohner, die ahnen, dass es kein Halten für den Virus gibt, sobald er die Insel erreicht. Noch immer landen hier Flugzeuge und legen Schiffe am Hafen von Samos an. Die Menschen können sich jetzt zwar nicht mehr in dem Community-Center treffen oder Griechisch lernen, bilden aber dennoch eine ununterbrochene, öffentliche Versammlung. Die Insulaner wurden wie in ganz Griechenland dazu aufgefordert, ihre Wohnung möglichst wenig zu verlassen.

Hinter der Geschichte: Der Autor war zwei Wochen auf der Insel Samos, um als humanitärer Helfer bei der NGO Samos Volunteers zu arbeiten. Er reiste am 14.3. ab. Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im sai – Das junge Magazin für Visionen.

Aber die Menschen im Camp können nicht einfach zuhause bleiben und den Kontakt minimieren. Einige Familien, mit schwangeren und kranken Angehörigen, leben in Containern zusammen mit zwei bis drei anderen Familien. Die meisten Geflüchteten leben jedoch in dem improvisierten „djungle“. Dieses Gebiet bildet eine wilde Nachbarschaft, wo sich selbstgezimmerte Hütten und Zelte abwechseln. Die Geräuschkulisse ist im Lager nie stumm, regelmäßig kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern. Allein sein kann man nie.

„Was ist das? Ist das gut?“, fragt mich Ali* aus Syrien wutentbrannt und zeigt auf ein arabisches Brot und Honig in Probiergröße, „Das ist alles fürs Frühstück.“ Sein Freund erklärt mir, dass er heute zweieinhalb Stunden angestanden hat. In den Essensschlangen kommt es meistens zu Streit.

Ganz Europa weiß dieser Tage, wie wichtig es ist, die sozialen Kontakte zu minimieren. Die Bürger sollen bitte vor allem auf eine gute Handhygiene achten. Die Ausbreitung des Virus‘ muss möglichst verlangsamt werden.

Die mangelhaften Hygiene-Bedingungen im Lager, die schlechten Gesundheitszustände vieler Bewohner und die menschenunwürdige, ständige Abwesenheit von Privatsphäre im Camp bilden somit die idealtypischste Grundlage für eine rasante Verbreitung des Virus. Sobald er es erreicht.

Evakuieren – jetzt!

Laut Ärzte ohne Grenzen gibt es keinen staatlichen Plan, wie die Sicherheit der Menschen in den Camps im Falle eines Ausbruchs von Corona gewährleistet werden könne. Am 17.03. legt Ärzte ohne Grenzen zum ersten Mal ihre Arbeit nieder. Schon jetzt gibt es auf den Inseln Gerüchte, dass der Virus längst das Camp erreicht hat, nur noch nicht festgestellt wurde. Die Menschen haben Angst und fühlen sich allein gelassen.

Konsequent durchgedacht verlangen die Maßnahmen der EU-Staaten somit eine umgehende Evakuierung der Menschen in geeignete Unterkünfte. Es ist dringender denn je. Die Europäische Union trägt eine Verantwortung für die Schutzsuchenden innerhalb ihrer Grenzen. Wenn sie sich nicht rechtzeitig an ihre Grundwerte und an geltende Rechtsnormen erinnert, dann kann das schreckliche Folgen haben.

* Die Namen der Menschen wurden zu ihrem Schutz geändert Aktuell Panorama

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