"Es ist unmenschlich"

In Hanau haben viele Migranten Angst

Trauer in Hanau um die Opfer des rassistischen Anschlags: Die Staatsspitze traf sich mit Angehörigen der Ermordeten im Kongresszentrum. In der Innenstadt versammelten sich Tausende Menschen vor Leinwänden und verfolgten die Übertragung.

Von Donnerstag, 05.03.2020, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 04.03.2020, 23:50 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Die Fenster vor der Shisha-Bar „Midnight“ im Zentrum von Hanau sind schwarz verklebt. Auf dem Fenstersims und mehrere Meter lang auf dem Gehweg sind Kerzen, Blumen, Porträtbilder von Ermordeten und Schilder abgelegt. Immer wieder bleiben Menschen stehen, vor allem Hanauer mit ausländischen Wurzeln. Zwei Männer kannten zwei der neun am 19. Februar offenbar aus rassistischen Motiven Erschossenen: „Wir machen uns Sorgen, dass so etwas wieder passiert“, sagen sie. Sie wollen die Übertragung der zentralen Trauerfeier der Stadt und des Landes Hessen am Mittwochabend auf dem Marktplatz verfolgen.

Eine Migrantin mit ihren zwei Töchtern hält ebenfalls vor den Porträtfotos inne. „Ich habe mich das erste Mal seit 14 Tagen hierher getraut“, bekennt sie. „Ich habe Angst.“ Ein Migrant mittleren Alters bestätigt: „Alle Ausländer haben Angst.“ Auch er kannte eines der Opfer. „Es ist unmenschlich“, sagt er. „Zwei Kollegen haben die Schüsse miterlebt“, erzählt ein junger Mann vom Kebap-Haus gegenüber. „Sie haben sich freigenommen“ – die Belastung sei zu groß. „Warum war Bundeskanzlerin Merkel nicht schon am nächsten Tag da?“, fragt er. Die Gaststätte habe seither viel weniger Kunden. Er will auch zur Übertragung der Trauerfeier mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gehen: „Es ist wichtig, dass wir zusammenstehen.“

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Auf Plakaten am Tatort stehen Forderungen wie „NSU-Akten freigeben“ oder Sätze wie „Das Gesetz ändert sich, das Gewissen nicht. Sophie Scholl“ oder „Wenn man Hass lernen kann, kann man auch lernen zu lieben“. Eine Gruppe Türkisch sprechender Männer stellt sich zu einem Gruppenfoto vor den Blumen und Kerzen auf. Timur Kumlu verweilt auch vor dem Gedenkort, er wohnt um die Ecke. „Ich mache mir Sorgen um die Zukunft meiner Kinder“, sagt er. Der rassistische Anschlag sei das Ergebnis einer Geschichte von Vorurteilen und Hetze gegen Einwanderer und Muslime.

„Alltagsrassismus ist in der Mitte“

„Der Alltagsrassismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, sagt er. Der Aufstieg der AfD sei nur ein Ausdruck davon. „Wir müssen mehr interkulturelle und interreligiöse Begegnungen haben“, fordert der Lehrer. Es sei egal, wenn ein Gegenüber eine andere Sprache spreche oder eine andere Religion habe: „Wir müssen uns gegenseitig respektieren.“

Auf dem nahe gelegenen Marktplatz ist das Denkmal der Brüder Wilhelm und Jacob Grimm ebenfalls von Blumen, Kerzen, Fotos und Schildern gesäumt. Zur Übertragung der Trauerfeier mit der Politprominenz und den Angehörigen der Opfer im Zentrum Congress Park ist der Platz abgesperrt, Taschen werden durchsucht, schwarz uniformierte Polizisten stellen sich am Rand auf. Der Marktplatz und der Freiheitsplatz mit den Leinwänden füllen sich bei einzelnen Regentropfen nur zögerlich. Die Polizei schätzt nach Beginn rund 2.000 Trauernde. Die Stimmung ist still und gefasst.

„Ich mache mich jetzt mehr Sorgen“

Katja Rapp ist aus Frankfurt angereist. „Mich hat der Anschlag sehr berührt“, sagt die Dozentin für Deutsch als Fremdsprache. „Ich mache mich jetzt mehr Sorgen als früher.“ Jeder Einzelne müsse überlegen, was er über andere sagt, fordert sie. „Wir gehören alle zusammen.“ Ein Migrant mittleren Alters hat keine Angehörigen verloren, will aber an der Trauerfeier teilnehmen und bekennt ebenfalls: „Wir sind alle Menschen.“ In der Familie, unter Freunden und Arbeitskollegen sei der Anschlag Gesprächsthema. „Ich mache mir Sorgen um meine Kinder und meine Frau“, sagt er.

Beate Beckmann aus Hanau will mit ihrer Anwesenheit ein Zeichen der Solidarität und Anteilnahme zeigen. Ihre Baptistengemeinde trifft sich ganz in der Nähe der Shisha-Bar. Sie hat vor der Feier an einem ökumenischen Trauergottesdienst in der Charity Church teilgenommen, in dem für die Angehörigen, die Stadt und das Land gebetet worden sei.

„Wir passen mehr aufeinander auf“

Thomas Wolf nennt das gleiche Motiv für seine Teilnahme. Der Lehrer hat mit seinen Schülern über den Anschlag gesprochen, ein Klassenkamerad habe einen Onkel verloren. Schülerinnen mit ausländischen Wurzeln einer neunten Realschulklasse äußern ebenfalls, dass sie mehr Angst haben. „Wir passen mehr aufeinander auf.“ Sie sind ebenfalls dabei, weil sie ihre Anteilnahme zeigen wollen, aber nicht nur: „Wir sind hier, weil wir gegen Rassismus sind.“

In Hanau hatte der 43-jährige Täter am 19. Februar zwei Bars angegriffen und neun Menschen mit Migrationshintergrund erschossen. Er und seine Mutter wurden im Anschluss in ihrer Wohnung tot aufgefunden. (epd/mig) Gesellschaft Leitartikel

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  1. Peter Enders sagt:

    Die meisten Politiker halten Sonntagsreden, statt dafür zu sorgen, dass der rechte ebenso wie der linke, religiöse usw. Terror im Geschichts- und Gesellschaftskunde-Unterricht behandelt wird und dass alle Schüler/innen wohl vorbereitet entsprechende KZs und Museen besuchen. Dabei darf es keine Opfer 1. und 2. Klasse geben, wie es leider viele und auch sehr einflussreiche Kreise wollen: das schlägt offensichtlich in sein Gegenteil um, fördert Gegenwehr statt Ausgleich! Und es ist notwendig (wenn auch nicht genug), dass alle religiös begründeten Privilegien abgeschafft werden, um Frieden zwischen den Institutionen und Gläubigen zu erreichen. Jesus wollte keine Privilegien – mit welchem Recht werden Privilegien von sog. christlichen Kirchen verlangt? Wenn Religion Privatsache ist, braucht es keine Kirchen und Moscheen usw., gibt es keinen Streit um die Ruhestörung durch Kirchenglocken, lautstarke Aufforderungen zum Gebet.