Rezension
Von Kartoffeln und Kanaken: Warum Integration im Klassenzimmer scheitert
Julia Wöllenstein ist Lehrerin an einer Gesamtschule. Die Mehrzahl ihrer Schüler hat einen Migrationshintergrund. Darüber hat sie ein Buch geschrieben. Wir haben es gelesen – und wünschen ihren Schülern und deren Eltern viel Selbstbewusstsein und Durchhaltevermögen.
Von Nadine Sylla und Yasmin Zakouri Freitag, 17.01.2020, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 23.01.2020, 23:58 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Liebe Julia Wöllenstein,
mit großem Interesse haben wir Ihr Buch „Von Kartoffeln und Kanaken“ gelesen und miteinander darüber diskutiert. Ihr Buch gliedert sich aus unserer Sicht in drei Teile: Nach einer ausführlichen Einführung und Erklärung des deutschen Schulsystems gehen Sie im Hauptteil auf die klassischen, seit 30 Jahren im Diskurs vorhandenen Argumente ein, warum der Islam grundsätzlich problematisch ist. Sie entwerfen ein Feindbild, was nahezu alle Probleme des deutschen Schulsystems erklären soll. In den abschließenden Kapiteln machen Sie Vorschläge, wie man konstruktiv damit umgehen könnte. Dabei ist der Titel „Von Kartoffeln und Kanaken“ Programm, da Sie kontinuierlich Grenzen zwischen vermeintlichen Schülern1 ziehen und Zuschreibungen machen. Durch diese Haltung werden Unterschiede fokussiert und wir stellen uns beim Lesen die Frage: Leben Sie diese Unterschiede auch mit Ihren Schülern? Findet im Klassenzimmer eine Einteilung zwischen Kanaken und Kartoffeln statt?
Das Buch zeigt sehr deutlich, dass Sie von ganzem Herzen Lehrerin sind und allen Ihren Schülern nur das Beste wünschen. Sie zeigen in den ersten Kapiteln nachvollziehbar auf, warum das dreigliedrige Schulsystem eines der grundlegenden Probleme darstellt und die Chancenungleichheit zwischen den Schülern nur verstärkt. Die Separation beginnt so früh, dass kaum noch Berührungspunkte existieren. Diese strukturellen Bedingungen sind sicherlich nur eine der vielen Herausforderungen, mit denen Lehrer in ihrem pädagogischen Alltag konfrontiert sind. Genauso wie Sie sehen wir hier die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Verantwortung und Entscheidung von Politik, Lehrern und Eltern für ein gemeinsames Lernen.
Im zweiten Drittel des Buchs wird deutlich, dass die Schüler mit Migrationshintergrund im Fokus Ihres Buches stehen. Eine defizitorientierte Haltung gegenüber lesen wir aus Aussagen wie diese heraus: „allerdings ist das Wissen um die eigene Religion bei den Schülern oft rudimentär“ (S. 77), „… Kindern, die ansonsten über eine wenig ausgeprägte Persönlichkeit verfügen“ (S. 77) und: „Ständig fühlen sie sich zurück gesetzt, ungerecht behandelt und stilisieren sich als Opfer.“ (S. 71)
Sie schreiben, dass Ihnen von Schülern vorgeworfen wird, rassistisch zu sein. Schade, dass wir nicht erkennen können, dass Sie die Schüler in ihren Aussagen ernst nehmen. Was kann es bedeuten, wenn Schüler Ihnen gegenüber den Vorwurf des Rassismus erheben?
„Beim Lesen Ihres Buches warten wir erfolglos auf die Schülerperspektive. Wir warten darauf, dass Sie Kritik von ihnen annehmen und reflektieren, vielleicht gemeinsam mit ihren Kollegen. Wir warten darauf, dass Sie die Bedürfnisse der Schüler in der Schule wahrnehmen, sich darüber austauschen und die Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen, die diese ja auch Ihnen gegenüber benennen, ernst nehmen. „
Beim Lesen Ihres Buches warten wir erfolglos auf die Schülerperspektive. Wir warten darauf, dass Sie Kritik von ihnen annehmen und reflektieren, vielleicht gemeinsam mit ihren Kollegen. Wir warten darauf, dass Sie die Bedürfnisse der Schüler in der Schule wahrnehmen, sich darüber austauschen und die Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen, die diese ja auch Ihnen gegenüber benennen, ernst nehmen. Denn rassistische Diskriminierungen stellen in der Schule nachweislich – wie z. B. in der Studie „Risiken des Widerstandes“ – eine Realität dar und werden dennoch zu oft bagatellisiert und verharmlost.
Aus einer Diversity Perspektive ist es unbedingt notwendig, institutionelle Diskriminierung mitzudenken. Verschiedenste Studien, unter anderem PISA, zeigen, dass in Deutschland die Bildungschancen und Bildungsbeteiligung in starker Abhängigkeit von der sozialen und sogenannten ethnischen Herkunft stehen. So bekommen Schüler mit Migrationshintergrund bei gleichen Leistungen häufiger eine Hauptschulempfehlung, weil davon ausgegangen wird, dass sie z. B. zu Hause wenig Unterstützung haben.
Das zeigt aber, dass eine Veränderung der Institutionen nicht ausreicht, sondern dass jeder Lehrer dazu aufgerufen ist, sich mit der eigenen Identität und Prägung auseinanderzusetzen. Eigene Bilder, Vorurteile und Stereotype über Schüler und deren Eltern gilt es zu reflektieren, weil sich dies direkt auf die Interaktion miteinander auswirkt. Sie kritisieren selbst an einer Stelle die Verwendung der Bezeichnungen von „Kartoffeln“ und „Kanaken“ durch die Schüler: „dass solche Ausdrücke beim Empfänger nie als reiner Spaß ankommen. Sie sind auch immer Ausdruck von Schubladendenken und ziehen imaginäre Grenzen“ (S. 145). So wird deutlich, dass Ihnen bewusst ist, dass Kanake als Schimpfwort gilt und kritikwürdig ist.
„Sie beschreiben ein „Wir“, Deutschland als ein Land, das von Respekt, Demokratie und Gleichberechtigung geprägt ist. Dabei wird die Ungleichheit, die in Deutschland beispielsweise hinsichtlich Geschlecht existiert, unsichtbar gemacht. Stattdessen gibt es ein „Die“, die zunächst vage als Schüler mit Migrationshintergrund beschrieben werden. Schaut man genauer hin, sind dabei von Ihrer Seite aber nicht Spanier oder Schweden gemeint, sondern es geht um Menschen, die muslimischen Glaubens sind oder von außen so wahrgenommen werden.“
Es sei an dieser Stelle benannt: Selbstverständlich verändert sich die Perspektive durch eine Selbstbezeichnung mit sarkastischem Unterton. Bei uns bleiben Widersprüche offen: Wie kann eine Weißdeutsche2 Person diesen Begriff nutzen, wenn sie in ihrer Vorbildfunktion ihren Schülern gegenüber die Nutzung kritisiert?
Die benannten imaginären Grenzen nehmen wir auch bei Ihnen wahr. Sie beschreiben ein „Wir“, Deutschland als ein Land, das von Respekt, Demokratie und Gleichberechtigung geprägt ist. Dabei wird die Ungleichheit, die in Deutschland beispielsweise hinsichtlich Geschlecht existiert, unsichtbar gemacht. Stattdessen gibt es ein „Die“, die zunächst vage als Schüler mit Migrationshintergrund beschrieben werden. Schaut man genauer hin, sind dabei von Ihrer Seite aber nicht Spanier oder Schweden gemeint, sondern es geht um Menschen, die muslimischen Glaubens sind oder von außen so wahrgenommen werden. Diese Anderen werden als bildungsfern und in patriarchalen Strukturen verhaftet beschrieben. Dass es auch deutsche Akademiker mit muslimischer Religionszugehörigkeit gibt oder weißdeutsche Konvertite, ist in diesem Wir-Sie-Denken nicht vorgesehen. Wollen Sie damit allen Muslimen die Zugehörigkeit zu unserer Gesellschaft absprechen?
Alle diejenigen, die zum „Wir“ gehören, profitieren direkt oder indirekt davon, weil sie als „normal“ wahrgenommen werden und privilegierten Zugang zu Ressourcen und Institutionen haben. Das Verhalten der Schüler wird in Ihrer Argumentationsweise mit der religiösen Zugehörigkeit erklärt, wie z. B. „…, dass ein Sohn in muslimischen Familien von Geburt der Prinz im Hause sei“, (S.67).
„Rassismus ist aus unserem Verständnis genau dieser Prozess, bei dem soziale Kategorien wie Religion, Nationalität oder Herkunft mit bestimmten negativen Eigenschaften oder Verhaltensweisen verbunden werden und allen Mitgliedern dieser Gruppe zugeschrieben werden. Die kategorische Abwertung und Andersartigkeit der vermeintlich homogenen Gruppe der Muslime durchzieht wie ein roter Faden Ihr Buch. Noch genauer: antimuslimischer Rassismus ist Programm.“
Rassismus ist aus unserem Verständnis genau dieser Prozess, bei dem soziale Kategorien wie Religion, Nationalität oder Herkunft mit bestimmten negativen Eigenschaften oder Verhaltensweisen verbunden werden und allen Mitgliedern dieser Gruppe zugeschrieben werden. Die kategorische Abwertung und Andersartigkeit der vermeintlich homogenen Gruppe der Muslime durchzieht wie ein roter Faden Ihr Buch. Noch genauer: antimuslimischer Rassismus ist Programm. Individuelle Gestaltungsspielräume und eine positive, freiheitliche Identitätsentwicklung der Schüler werden durch solche Zuschreibungen verhindert.
Chimamanda Adichie macht seit 2014 mit Ihrer berühmten Rede „The Danger of a single Story“ aufmerksam, wie gefährlich nur die eine Geschichte und die eine Perspektive über einen Menschen ist, die unvollständig und einseitig ist. Genau dieses Phänomen können wir kontinuierlich in Ihrem Buch erkennen. Ihre Erfahrungen und die Ihrer Kollegen mit Schülern und deren Eltern werden rezipiert und als allgemeingültig dargestellt. „Die Folge der einzigen Geschichte ist diese: Es beraubt die Menschen ihrer Würde. Sie erschwert uns, unsere Gleichheit als Menschen zu erkennen. Sie betont eher unsere Unterschiede als unsere Gemeinsamkeiten.“
Im pädagogischen Alltag werden täglich bewegende Erfahrungen gemacht, diese sowie die Ursachen für ein bestimmtes Verhalten können jedoch sehr unterschiedlich gedeutet werden. Erfahrungen sind immer subjektiv und sollten aus unserer Sicht nicht als allgemeingültige Realität oder Wahrheit dargestellt werden. In Ihrem Buch beanspruchen Sie jedoch für sich und Ihre Kollegen die Deutungs- und Interpretationsmacht.
„Ihren Schülern wünschen wir empowernde Strukturen, Selbstbewusstsein und Wege zur Zugehörigkeit. Vor allem wünschen wir Ihren Schülern Menschen, die sie nicht einseitig wahrnehmen, sie in ihren Bedürfnissen ernst nehmen und mit ihnen Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen thematisieren. Den Eltern Ihrer Schülern wünschen wir Durchhaltevermögen und Begegnungen der Offenheit im Schulsystem.“
Zwischen den Zeilen sowie einzelnen Kapiteln konnten wir eine Ambivalenz zwischen Ihrer Leidenschaft als Lehrerin, Ihrer Wahrnehmung sowie Ihren Bildern im Kopf hinsichtlich der von Ihnen als muslimisch gelesenen Schülern und Ihren Erfahrungen wahrnehmen. Hierbei hätten wir Ihnen, bei Ihrer getroffenen Auswahl der Personen, die sie hinsichtlich der „Integration im Klassenzimmer“ zu Rate gezogen haben, einen differenzierteren Blick gewünscht.
Wir bedauern zudem Ihre pseudowissenschaftliche Quellenauswahl, die nicht den aktuellen Forschungsstand rezipiert, sondern einseitig und voreingenommen Ihre Thesen bestätigt. Viele Argumentationsweisen, beispielsweise auch zum Erst- und Zweitspracherwerb sind schlichtweg falsch und wissenschaftlich längst widerlegt. Wir wünschen Ihnen einen differenzierten Blick, um Probleme im Bildungs- und Schulsystem weiter anzusprechen und für Veränderungen zu kämpfen.
Ihren Schülern wünschen wir empowernde Strukturen, Selbstbewusstsein und Wege zur Zugehörigkeit. Vor allem wünschen wir Ihren Schülern Menschen, die sie nicht einseitig wahrnehmen, sie in ihren Bedürfnissen ernst nehmen und mit ihnen Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen thematisieren. Den Eltern Ihrer Schülern wünschen wir Durchhaltevermögen und Begegnungen der Offenheit im Schulsystem.
- Im Originaltext der Autor*innen wird das *Gendersternchen genutzt, um alle Geschlechter in der Sprache sichtbar zu machen. Die Redaktion hat sich vorbehalten, Änderungen in der Schreibweise vorzunehmen, um eine leichtere Lesbarkeit zu ermöglichen
- Die Schreibweise Weiß soll den sozialen Konstruktionscharakter des Begriffes betonen, der sich nicht auf die Hautfarbe bezieht, sondern auf die damit verbundene Ideologie und Privilegien.
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