Nebenan
Fluchtursachen
Die iPhones und die Jeans lassen wir dann natürlich gern ins Land - aber bitte nicht die, die an deren Produktion verrecken. Wir können ja nicht all die Opfer unseres Konsums aufnehmen. Von Sven Bensmann
Von Sven Bensmann Dienstag, 16.07.2019, 5:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 17.07.2019, 16:20 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Letzte Woche habe ich mal wieder eines dieser Gespräche geführt, die in Frage stellen, ob der Marvel-Superschurke Thanos nicht eigentlich der größte Held von allen ist, ein moderner Jesus, der tut, wozu wir anderen nicht in der Lage sind oder sein wollen.
Ein Freund war gerade mit einer Tüte Burger aus einem bekannten Fastfood-Restaurant amerikanischer Provenienz herausspaziert, bot mir einen davon an, nur um sich direkt daran zu erinnern, dass ich vegetarisch lebe. Er zwang mir daraufhin eine Diskussion darüber auf, in deren Folge er mir letztlich zustimmte, dass meine Analysen ja richtig seien, dass auch meine Konsequenzen richtig seien, dass er aber zu inkonsequent sei, sie umzusetzen – dass er jedes Mal aufs neuen einen Tritt in den Hintern braucht, der ihn zwingt richtig zu handeln – dass er sich wünsche, die Politik würde ihm von vornherein alles Schlechte verbieten. Letztlich stimmte er mir sogar darin zu, dass er mir diese Diskussion wohl deswegen aufgedrängt hatte, weil er sich von meiner konsequenteren Haltung herausgefordert fühlte – und brachte damit unwillkürlich die ganze Misere der Menschheit auf den Punkt:
Es gibt jene, die ihre Konsequenzen ziehen und jene, die das nicht tun – und letztere sind in einer überwältigenden Mehrheit. Einfach, weil das bequemer ist. Jene fühlen sich aber von ersteren herausgefordert – wir erleben dasselbe in den Fridays for Future: Fahrzeughersteller, Kohleverstromer, FDP-Politiker fühlen sich von der Reinheit des Standpunkts einer ganzen Generation, die ihr Recht auf eine eigene Zukunft einfordert (wie Harald Lesch das so treffend auf den Punkt gebracht hat), herausgefordert, angegriffen und ergo in die Defensive gezwungen. Und in der Defensive wird nicht mehr nachgedacht, da wird nur noch verteidigt: Da wird nicht mehr verstanden, dass niemand das Lebenswerk der Kumpel entwerten will, dadurch, dass wir aus der Kohle aussteigen – dass es einfach eine zivilisatorische Notwendigkeit ist und die Kohlejobs für unsere Sünden geopfert werden müssen.
Die Erde verträgt ein Wirtschaften, wie wir es aktuell betreiben, schlicht und einfach nicht von einer Population, wie wir sie aktuell haben. Wir haben also letztlich nur zwei Optionen: Entweder wir reduzieren die negativen Folgen unseres Wirtschaftens radikal – oder wir reduzieren die Population, die diese Folgen verursacht, und zwar ebenso radikal – die Sympathien meines Gesprächspartners lagen irritierend eindeutig auf der zweiten Lösung – immerhin erweckte er nicht den Eindruck, dabei eine Bevölkerungsgruppe einer anderen vorziehen zu wollen.
Gerade innerhalb einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, in der es allein darum geht, kurzfristig Kosten zu minimieren und Gewinn zu maximieren, ist die angesprochene Bequemlichkeit jedoch fatal. Dass es heute billiger ist, die Atmosphäre zu vergasen, die Böden zu vernichten und Insekten, Vögel, Kleintiere auszurotten oder Meere in Quallen- und Algenwüsten zu verwandeln, heißt ja schließlich nicht, dass es auf Dauer billiger ist oder dass es das für alle ist. Nur hat die Generation, die noch geboren werden muss, weder Stimme noch Lobby.
Fridays for Future bringt genau dieses Machtgefüge inzwischen ins Wanken. Erstmals tritt eine kommende Generation für ihre Rechte in einen Streit mit der Generation, die den Status quo verkörpert, die in nicht geringem Maße für das Problem selbst verantwortlich ist, in der sie die geringen Kosten in einen Kontext mit teuren Folgekosten bringt – die eben nicht nur, wie das seit Jahren passiert, moralinsauer erklärt: Die Kosten für unsere billige Kleidung muss jemand anders bezahlen. Denn in der „Flüchtlingskrise“ sieht es ja nicht anders aus.
Und auch wenn wir mittlerweile mal von Politikern hören, wir müssten „Fluchtursachen bekämpfen“, läuft es doch meist noch auf (Wirtschafts-)Flüchtlinge bekämpfen hinaus – weil es bequemer ist. Dabei wird grundsätzlich nicht anerkannt, dass diese Menschen vor allem vor unserer Wirtschaft bzw. deren Konsequenzen flüchten, und da reden wir fast schon von Ewigkeitskosten. Der Begriff kommt eigentlich aus dem Steinkohleabbau und bezieht sich auf die potenziell ewig anfallenden Kosten für die Instandhaltung der längst aufgegebenen Minen (allein für NRW liegen die derzeit bei jährlich mindestens 220 Millionen Euro – für uns, unsere Kinder, unsere Enkel, deren Enkel usw.; Kosten durch Klimawandel nicht eingerechnet), um die Vergiftung des Grundwassers oder den Zusammenbruch zu verhindern.
Diese Kosten fallen heute auch durch das Auslagern der Gifte unserer Produktion in die Dritte Welt an. Und während wir dann aus mehr oder weniger sicherer Distanz über Kinder schaudern, die in Ghana Müll ausbrennen, um Kupfer für ein paar Cent zu gewinnen, über vergiftete Flüsse in Indien und Bangladesch und über Luft in China, die man nicht mehr atmen kann, erklären wir guten Gewissens: „Wir würden ja mehr bezahlen, wenn…“ – nur um es dann eben nicht zu tun.
Die iPhones und die Jeans lassen wir dann natürlich gern ins Land – aber eben nicht die, die an deren Produktion langsam verrecken und sich nach Besserem sehnen. Wir können ja nicht all die Opfer unseres Konsums aufnehmen. Und würden wir die Fluchtursachen ernsthaft bekämpfen wollen, dann müssten wir ja auf T-Shirts für 2 € verzichten oder auf Seefisch. Das wäre ja auch irgendwie unbequem. Dann vielleicht doch lieber die Bevölkerung halbieren – so als ersten Schritt.
Meinem Freund vom Anfang habe ich übrigens geraten: wenn er sich wieder einmal ein Stück Tier in den Mund schieben will, soll er zuvor seiner kleinen Tochter tief in die Augen schauen und sich dafür entschuldigen. Er weiß ja warum. Aktuell Meinung
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Danke :)
Dem „Danke“ kann ich mich nur anschließen, zumal die Beiträge von Herrn Bensmann immer so treffend sind. Schade nur, daß von den Verantwortlichen zu wenige -vermutlich- sie lesen und zum Anlaß nehmen, etwas zu ändern.
Aber man darf nicht aufgeben.