Carola Rackete, Sea-Watch, Seenotretterin, Mittelmeer, Flüchtlinge
Carola Rackete, Kapitänin der Sea-Watch © Sea-Watch

"Schande für Europa"

Sea-Watch-Kapitänin in Lampedusa unter Hausarrest

Die 40 Flüchtlinge von der "Sea-Watch 3" haben endlich trockenen Boden unter den Füßen. Doch der Kapitänin des Rettungschiffs droht jetzt eine Haftstrafe. Sie erhält diplomatischen Beistand und viel Rückendeckung aus Deutschland. Nur FDP hält ihre Festnahme für gerechtfertigt.

Montag, 01.07.2019, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 04.07.2019, 23:23 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Die Festnahme der deutschen „Sea-Watch“-Kapitänin Carola Rackete durch italienische Behörden hat in Deutschland vielfach Empörung ausgelöst. Die 31-Jährige war am Samstagmorgen in Lampedusa festgenommen worden, unmittelbar nachdem sie das Rettungsschiff „Sea-Watch 3“ mit 40 Flüchtlingen in den Hafen der italienischen Insel gesteuert hatte. Sie hatte dazu keine Genehmigung erhalten. Die Migranten, die mehr als zwei Wochen auf der „Sea-Watch 3“ waren, gingen in Italien an Land, wie lokale Medien berichteten. Inzwischen steht Rackete unter Hausarrest.

Außenminister Heiko Maas (SPD) appellierte per Twitter an die italienische Justiz, die Vorwürfe schnell zu klären. „Menschenleben zu retten ist eine humanitäre Verpflichtung. Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden“, erklärte der Minister am Samstag. Auch weitere Politiker von SPD, Grünen und Linken setzten sich für Rackete ein. Die evangelische Kirche sprach von einer „Schande für Europa“.

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Kapitänin droht Haftstrafe

Italien hatte das Anlegen des Schiffes nicht genehmigt. Es wurde im Hafen umgehend von Polizei und Zollbehörden beschlagnahmt. Die Kapitänin steht nach Angaben der Organisation „Sea-Watch“ unter Hausarrest, während die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen hat. Ihr werde Beihilfe zur illegalen Einreise vorgeworfen, sagte ein „Sea-Watch“-Sprecher dem „Evangelischen Pressedienst“ am Samstag. Nach italienischen Medienberichten droht ihr wegen Verstoßes gegen die Schifffahrtsordnung eine Haftstrafe zwischen drei und zehn Jahren. Laut Auswärtigem Amt wird der Fall durch die Botschaft in Rom konsularisch begleitet.

Der Vater von Rackete sagte dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“, er hoffe auf eine rasche Freilassung seiner Tochter. Sie sei „lustig und guter Dinge“ und „bei einer sehr netten Dame untergebracht, die sich rührend um sie kümmert“, sagte Ekkehart Rackete aus Hambühren (Niedersachsen), nachdem er nach eigenen Angaben am Samstag mit seiner Tochter telefoniert hatte.

SPD, Linke, Grüne kritisierten Festnahme

SPD, Linkspartei und Grüne kritisierten die Festnahme der Aktivistin scharf. Die kommissarische SPD-Vorsitzende Malu Dreyer betonte wie Maas: „Die Lebensretter auf See dürfen nicht kriminalisiert werden.“ Seenotrettung sei eine humanitäre Verpflichtung und kein Verbrechen, sagte sie den Zeitungen der Essener Funke Mediengruppe. Sie sprach sich dafür aus, Fluchtursachen zu bekämpfen und nicht wegzusehen, wenn sich Menschen auf den lebensgefährlichen Weg in einen sicheren Hafen machten.

Grünen-Chef Robert Habeck sagte dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“: „Die Verhaftung von Kapitänin Rackete zeigt die Ruchlosigkeit der italienischen Regierung und offenbart das Dilemma der europäischen Flüchtlingspolitik“. Der eigentliche Skandal seien das Ertrinken im Mittelmeer, die fehlenden legalen Fluchtwege und ein fehlender Verteilmechanismus in Europa. Habeck forderte die Bundesregierung auf sich dafür einzusetzen, „dass die Rettung von Ertrinkenden im staatlichen Auftrag oder staatlich organisiert geschieht“.

FDP hält Festnahme für gerechtfertigt

Die Linkspartei erklärte sich solidarisch mit Rackete. Sie habe höchst verantwortungsvoll gehandelt, so der Parteivorstand am Samstag. Der außenpolitische Sprecher der Fraktion im Bundestag, Stefan Liebich, forderte die Bundesregierung auf, sich für die Freilassung Racketes einzusetzen. Zudem solle sie eine zivile Rettungsmission der EU auf den Weg bringen oder aber eine deutsche starten, sagte Liebich der „Welt“.

Allein die FDP hält die Festnahme der „Sea Watch“-Kapitänin für gerechtfertigt. Carola Rackete sei entgegen dem Verbot in den Hafen gesteuert, sagte Bijan Djir-Sarai, außenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, der „Welt“: „Sie wird trotz edler Motive für diese illegale Aktion die Verantwortung übernehmen müssen. Die Rechtsstaatlichkeit ist außerordentlich gefährdet, wenn unter Berufung auf gesinnungsethische Motive Gesetze gebrochen werden.“

Bedford-Strohm „traurig und zornig“

Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm erklärte in Hannover, dass die „Sea-Watch“-Kapitänin beim Anlegen in Lampedusa festgenommen wurde, mache ihn „traurig und zornig“: „Eine junge Frau wird in einem europäischen Land verhaftet, weil sie Menschenleben gerettet hat und die geretteten Menschen sicher an Land bringen will. Eine Schande für Europa!“

Die Besatzung des Rettungsschiffes hatte am 12. Juni insgesamt 53 Flüchtlinge in Seenot vor Libyen gerettet. Einige der Flüchtlinge durften in den vergangenen Tagen als Notfälle an Land gehen. Eine Rückkehr nach Libyen hatte die Organisation Sea-Watch wegen des Bürgerkriegs und der Menschenrechtsverletzungen dort ausgeschlossen. (epd/mig) Ausland Leitartikel

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  1. von Holtum sagt:

    Bravo FDP; wenn jeder nach Belieben Recht brechen darf, wäre dies das Ende unserer Rechtsstaatlichkeit. Die Liberalen sind offenbar die einzigen Bewahrer unserer demokratischen Tradition, die nicht auf die linkspopulistischen Parolen hereinfallen.

  2. LuiseRieth sagt:

    Der Frau Rackete werden Straftaten vorgeworfen. Hierüber soll ein zuständiges Gericht urteilen. Wenn jetzt Politiker fordern, dass Recht nicht durchgesetzt wird, fordern sie gleichzeitig die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung eines EU-Mitgliedsstaates. Ich schäme mich für diese Politiker.

  3. Marc sagt:

    Recht hin oder her.
    Ich wünsche mal jedem der so abfällig Kommentiert,
    dass er oder sie mal in Seenot gerät und das Schiff vorbei fährt
    und sagt „Tut uns leid wir dürfen euch nicht retten. Viel Glück beim paddeln“

  4. Peter Enders sagt:

    Gewiss: Die Zustände in vielen afrikanischen Staaten sind in der Tat erbarmungswürdig, darin ist auch Deutschland ebenfals und sollte seinen Beitrag schultern. Das wird im Artikel leider nicht thematisiert.
    Frau Rackete hat nicht Menschen, die durch _zufälligen, unvorhersehbaren_ Maschinenschaden o. ä. in Seenot _geraten_ sind, aufgenommen, sondern Menschen ermuntert, sich in Seenot zu _begeben_, mithin _bewusst_ ihr Leben zu riskieren.
    Frau Rackete kannte die italienischen Hindernisse. Welche nicht-italienischen Häfen hätte sie in diesen 2 Wochen anlaufen könne, weshalb hat sie es nicht getan?
    Der deutsche Außenminister fordert die italienische Regierung auf, in die italienische Justiz einzugreifen: Geht’s noch?! – NB: Die italienische Justiz ist formell unabhängiger als die deutsche Justiz, weil nicht nur die Richter, sondern auch die Ankläger unabhängig sind (Deutschlandfunk).
    Die tatsächlichen Fluchtursachen werden im Artikel ebenfalls nicht thematisiert: Schade!

  5. aloo masala sagt:

    Wenn das Recht wichtiger als ein Menschenleben ist. Weder LuiseRieth noch von Holtum haben begriffen, wofür das Recht geschaffen wurde. Das Recht wurde geschaffen, um unser Zusammenleben zu regeln. Es ist für uns da. LuiseRieth noch von Holtum sind für das Recht da, Menschenleben haben sich da ganz klar unterzuordnen. Was für eine perverse und entmenschlichte Denkweise ist das denn???

    Davon abgesehen ist es gar nicht so offensichtlich, ob Rackete gegen geltendes Recht verstoßen hat oder doch nicht eher Italien. Das rechtliche Dilemma entfaltet sich zwischen zwei Grundsätzen des Völkerrechts:

    1. Das Seerecht gibt den Staaten grundsätzlich das Recht, ihre Häfen für fremde Schiffe zu sperren.

    2. Es besteht die Pflicht, Menschen in Seenot zu retten und an einen sicheren Ort zu verbringen.

    Das gewohnheitsrechtlich anerkannte Nothafenrecht greift, wenn Gefahr für Leib und Leben der Besatzung / Passagiere droht. In diesem Fall muss der Hafen den Einlauf des Schiffes dulden. Der nächste Hafen, der eindeutig Völkerrecht und Seenotrecht garantiert ist Lampedusa.

  6. Sebastian sagt:

    Grünen-Chef Robert Habeck spricht von „Ruchlosigkeit der italienischen Regierung“. Was für eine unverschämte Äußerung seinerseits! Italien kann ja wohl unmöglich tatenlos zusehen, wenn sich eine Kapitänin über gleich mehrere Anweisungen hinwegsetzt. Was wäre denn das Resultat? Dann würden es andere auch machen und bald wäre dem Flüchtlingsstrom Tür und Tor geöffnet, wenn bekannt werden würde, dass keine Strafe zu erwarten wäre. Es ist wirklich unglaublich, wie kurzsichtig manche Politiker sind. Ich schäme mich für Deutschland, das ist richtig peinlich!

  7. Gerrit Greiß sagt:

    Leider wird in einigen Kommentaren polarisiert statt sachlich argumentiert. Von denen, die jetzt so sehr auf Recht pochen. Was ist ein „Recht“ wert, daß die Menschenwürde nicht achtet?
    Fakt ist, daß die BRD sich jahrelang in ihrer Verantwortung auf DUBLIN ausgeruht hat. Man war in der komfortablen Lage, mitten in der EU, daß Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Deutschland durch irgendein EU-Land mussten (die wenigsten kommen per Flugzeug nach Frankfurt a.M.). Also war man sich sicher, daß andere Länder (Mittelmeer-Anrainer) die Hauptlast tragen müssen. Das ist nicht in Ordnung, wenn wir die EU als Wertegemeinschaft verstehen wollen/sollen.
    Insofern kann man den Unmut der Italiener verstehen. ABER die europäische Uneinigkeit darf man nicht auf dem Rücken der Flüchtlinge austragen. Schon gar nicht in der Art wie es „Herr“ Salvini macht und leider auch einige aus der Politik hierzulande. Sich jetzt als Moralapostel aufzubauen ist zumindest fraglich, wenn man vorher das Amt nicht genutzt hat, um in Brüssel, in der EU etwas zu ändern.
    Denn darum geht es doch. Es geht um Menschen in einer Notsituation, denen geholfen werden MUSS! Wer meint, „die“ könnten ja nach Libyen zurück, hat sich noch nie über die Zustände dort wirklich infomiert. Das sind KZ-ähnliche Einrichtungen – wollen wir das??? Wer behauptet, es würden Schlepper unterstützt, muss Schlepper vor Ort bekämpfen. Die Menschen auf dem Meer haben bezahlt. Das interessiert die Schlepper nicht mehr. Vor allem müssen Fluchtursachen nachhaltig bekämpft werden – erst dann wird sich etwas ändern. Die wenigsten Menschen mit halbwegs vernünftigen Perspektiven werden ihr Land, ihre Familie, ihr soziales Umfeld und ihre Traditionen verlassen.
    Frau Rakete hat vielleicht gegen irgendein Recht „verstoßen, aber sie hat RICHTIG gehandelt … und vor allem die Menschenwürde achtend. Vielleicht etwas provokativ, um Reaktionen zu erzeugen. Aber wenn nichts passiert, wird die EU immer nur „weiter so“ machen.
    Und denen, die jetzt so sehr auf das Recht (Gesetze) pochen, muss man entgegen halten: Es gibt Gesetze, die nur den Interessen oder der Rechtfertigung der Verfasser dienen. Das hatten wir alles schon einmal in Deutschland bis hin zum sogenannten Befehlsnotstand als quasi Rechtfertigung. Dennoch waren diese Gesetze falsch, wie wir heute wissen. Dem Richter in Agrigent gebührt Respekt für seine Entscheidung.

  8. Ute Plass sagt:

    Carola Rackete und alle die Menschen retten, die vor Armut, Gewalt und zerstörten Lebensgrundlagen flüchten, gebührt mein Dank.
    Die Sea-Watch-Kapitänin handelte folgerichtig, indem sie durch ‚zivilen Ungehorsam‘ Widerstand leistete gegen den inhumanen Buchstaben des Gesetzes. Gemäß einem Zitat, welches Berthold Brecht zugeschrieben wird: „Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“

  9. Ute Plass sagt:

    @Sebastian: „Italien kann ja wohl unmöglich tatenlos zusehen, wenn sich eine Kapitänin über gleich mehrere Anweisungen hinwegsetzt. Was wäre denn das Resultat? Dann würden es andere auch machen und bald wäre dem Flüchtlingsstrom Tür und Tor geöffnet, wenn bekannt werden würde, dass keine Strafe zu erwarten wäre.“
    Strafaktionen lösen doch nicht das weltweite Problem der weiter zu erwartenden „Flüchtlingsströme“. Höchste Zeit für eine humane, kluge Politik, die mit dazu beiträgt, dass Menschen sich nicht zur Flucht gezwungen sehen.
    Allerdings bedarf es dazu der Einsicht, dass unser vorherrschendes zerstörerisches, profitgetriebenes Wirtschaften sich transformieren muss in eine solidarisch-ökologische Ökonomie. Wenn das nicht geschieht, so meine Befürchtung, schlittern wir weiter in die Katastrophe von Erdzerstörung und Krieg mit unvorstellbaren Ausmaßen.

    Erwarte, dass Politiker wie Habeck sich nicht in moralischer Empörung gegenüber Italien ergeht, sondern in konstruktiver Weise zum notwendigen Dialog einlädt, der das gute Leben aller Menschen im Sinne hat.