Mordfall Lübcke
Chronischer Rechtsruck und was dagegen hilft
Der vermutlich rechtsextrem motivierte Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ist nach dem NSU-Gau ein weiterer Lackmustest für die Exekutive, Legislative und Judikative. Aber auch Medien und Gesellschaft sind gefordert. Von Yasin Baş
Von Yasin Baş Donnerstag, 20.06.2019, 5:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 24.06.2019, 16:54 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke sorgt derzeit für rege Diskussionen. Heinrich Wefing schreibt in der Zeit: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, so scheint es, ist ein Repräsentant des Staates einem politischen Mord zum Opfer gefallen“.
Exekutive Verantwortung
„Man würde es sich freilich viel zu leicht machen, wollte man nur darauf schauen, wie Tun und Unterlassen der Sicherheitsbehörden sich auf Rechtsextremisten auswirken. Das Klima, in dem Hass und die Bereitschaft zur Militanz gedeihen, hängt nicht nur davon ab, wie Polizei und Geheimdienste agieren. Es wird auch davon geprägt, wie Politik und Gesellschaft diskutieren; ob sie heftig, aber fair für ihre Standpunkte streiten, oder ob sie in Schmähung, ja, Hetze abgleiten.” Diese Zeilen stammen von Ferdos Forudastan (Süddeutsche Zeitung). Die Journalistin mit iranischen Wurzeln, die auch Sprecherin von Ex-Bundespräsident Joachim Gauck war, nimmt neben den ausführenden Sicherheitsbehörden auch die gesetzgebenden Politikerinnen und Politiker in die Pflicht.
Legislative Verantwortung
Denn gerade sie, die als Vorbilder agierenden Personen der politischen Zunft trügen durch ihre Wortwahl in hitzigen Diskursen eine hohe Verantwortung für die Stimmung im Lande. Das politische System braucht sich nicht wundern, wenn Politiker, die insbesondere bei Themen wie Asyl, Migration oder Muslime eine überspitzte Sprache gebrauchen und wenn Teile der Gesellschaft an diese Sprachform anknüpfen, diese weiterführen und möglicherweise zuspitzen, verschlimmern und pervertieren. Forudastan weist auch deshalb darauf hin, dass es User in den digitalen Netzwerken gäbe, die sich durch eine bestimmte Sprache erst recht befeuert fühlten: „Wenn der Politiker X sich in seiner Wortwahl vergreift, dann kann ich es doch auch. Und gar nicht von denen zu reden, denen es sowieso an Anstand, Sitte oder demokratischer Gesinnung mangelt. Sie alle fluten sodann das Netz”, schreibt sie. Die Journalistin benennt zwei wichtige Säulen unserer Staatsgewalt. Die Exekutive (Behörden) und die Legislative (Politik). Aber hat die Judikative (Rechtsprechung/Gerichte) nicht eine ebenso wichtige Verantwortung bei der Bekämpfung des Extremismus und Terrorismus?
Judikative Verantwortung
Wie wird es in der Bevölkerung aufgenommen, wenn Gerichte entscheiden, dass beispielsweise Akten im Fall der rechtsterroristischen NSU für 120 Jahre unter Verschluss gehalten werden sollen? Wie wird sichergestellt, dass nicht auch Gerichte von extrem nationalistischem oder linksextremistischem Gedankengut unterwandert werden? Falls es mögliche Verschleierungen, Verschleppungen und Vertuschungen gibt – egal in welchem Land – könnte man dort noch von unabhängiger Gerichtsbarkeit sprechen? Es gibt Staaten, in denen Staatsanwälte damit beauftragt werden, bestimmte Fälle zuzudecken, damit es zu keinem Staatsdesaster oder Skandal kommt. In diesen Staaten ist der sogenannte „Tiefe Staat” sehr aktiv. Im Zuge des NSU-Skandals haben überaus renommierte Journalisten deutscher Zeitungen von so einem Staat auch bei uns gesprochen und gewarnt.
Verantwortung der Medien und der Zivilgesellschaft
In demokratisch verfassten Staaten gelten Medien oft als „Vierte Macht” (Publikative Gewalt). Für manche Zeitgenossen gilt die Zivilgesellschaft, für andere dagegen die Lobbyisten als „Fünfte Macht”. Es bleibt unbestreitbar, dass Medien und Zivilgesellschaft, die einen mit ihrer Berichterstattung, die anderen mit ihrem Engagement in der Gesellschaft wichtige Akteure sind, dem Extremismus entgegenzuwirken. Manche Journalisten können mit ihrer Sprache ebenso dazu beitragen, dass sich die Situation aufheizt. Natürlich gehört Kritik zum Handwerk eines Journalisten. Aber wenn diese Kritik – wie bei einigen Medien – zu einer Feindschaft gegenüber bestimmten Gruppen ausartet oder zum Redaktionsalltag gehört, ist es oft schon zu spät. Neben den klassischen Medien geraten die sogenannten „sozialen“ Medien in den Fokus. Hetz- und Diffamierungskampagnen, Hasskommentare oder sogar die Live-Übertragung der Tat im Netz bereiten große Sorgen und schreien geradezu nach Regulierung.
Wehrhaft bleiben für den liberalen Rechtsstaat
„Die Mordserie NSU und deren gerichtliche Aufarbeitung haben gezeigt, dass Deutschland ein Problem mit rassistisch motivierter Gewalt hat“, schreibt Politikjournalistin Marina Kormbaki im „Kölner Stadt-Anzeiger“. Dies ist keine neue Erkenntnis. Unser Land befindet sich nicht erst jetzt oder erst seit ein paar Jahren in diesem Konflikt. Das Dilemma ist kein akutes, sondern ein chronisches. Manche Beobachter sprechen sogar von einer historischen Problematik. Der liberale Rechtsstaat muss wehrhaft sein und wehrhaft bleiben. Das bedeutet aber auch, eine Methode zu finden – falls erforderlich – gegen sich selbst wehren zu können. Es könnte als eine Art Immuntherapie gegen Extremismen im eigenen System verstanden werden. Und darin sind in der Verantwortung die Exekutive, die Legislative, die Judikative, die Medien und die Zivilgesellschaft. Dies bedarf einer Bewusstwerdung für die eigene Problemlage, daran anschließend einer Reflexion, Selbstkritik und Entwicklung von Mechanismen der Selbstreinigung. Dies gilt erstmal für den eigenen Verantwortungsbereich der staatlichen Gewalten (Säulen), jedoch auch in der Interaktion mit den anderen Verantwortungsbereichen. Das ist nicht leicht und erfordert Zeit. Aktuell Meinung
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