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Ausländische Hochschulabschlüsse © mauritsreijnoudt @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Arbeitsmarkt

Warum ist ein Sprachzertifikat mehr wert als eine ausländische Muttersprache?

Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund übernehmen wichtige Zusatzaufgaben im beruflichen Alltag - sie sind Übersetzer, Kulturvermittler und Vorbilder im Sinne einer gelungenen Integration. Leider werden diese Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt aber immer noch kaum anerkannt.

Von Montag, 05.11.2018, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 08.11.2018, 15:57 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Ein Auslandssemester in der Türkei oder ein Praktikum in London, der Nachweis über das erfolgreiche Absolvieren eines Chinesischkurses oder ein Zertifikat, das interkulturelle Kompetenzen bescheinigt – kaum eine Stellenausschreibung äußert heutzutage nicht den Wunsch nach der obligatorischen Internationalität. Der ideale Bewerber spricht mindestens eine weitere Fremdsprache fließend, hat im Ausland gelebt und bewegt sich sicher zwischen verschiedenen Arbeitskulturen und -mentalitäten.

Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund einer zunehmend globalisierten und miteinander vernetzten Welt vollkommen natürlich und nachvollziehbar. Zeitgleich verwundert jedoch die Tatsache, dass immer wieder Studien erscheinen, die belegen, dass Personen mit Migrationshintergrund häufig gerade aufgrund ihres kulturellen „Andersseins“ auf dem Bewerbermarkt diskriminiert werden. Beispielhaft sei hier das Pilotprojekt „Anonymisierte Bewerbungsverfahren“ des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) angeführt.

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Die Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Bewerber mit Migrationshintergrund durch das Anonymisieren ihrer Bewerbungsunterlagen die Chancen auf ein Vorstellungsgespräch nachweislich erhöhen konnten – und dies wohlgemerkt bei gleichbleibender Qualifikation. Verfügt ein Bewerber mit Migrationshintergrund, der sich tagtäglich in unterschiedlichen kulturellen Kreisen bewegt, gelernt hat kulturelle Widersprüche auszuhalten und diese erfolgreich in die eigene Identität zu integrieren, nicht über weitaus mehr interkulturelle Kompetenzen als ein Austauschstudent? Sind Fremdsprachenkenntnisse, die von der Kindheit an erlernt und verinnerlicht wurden, nicht aussagekräftiger als ein Fremdsprachenzertifikat?

Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund bringen nicht nur Fremdsprachenkenntnisse mit, sie können aufgrund ihrer kulturellen Kenntnisse und Fähigkeiten auch als Vermittler zwischen unterschiedlichen Kulturen fungieren. Dies ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn sich Sprachen und Kulturen stark von der westlichen, mitteleuropäischen Lebenswelt unterscheiden. Auch aus integrationspolitischer Sicht kommt Personen mit Migrationshintergrund, die erfolgreich am deutschen Arbeitsmarkt partizipieren, eine wichtige Bedeutung zu. Sie demonstrieren, dass man im neuen Heimatland ökonomisch, sozial und kulturell erfolgreich integriert sein kann.

Warum also werden Bewerber mit Migrationshintergrund in unserer Gesellschaft immer noch benachteiligt? Verschenken wir hier nicht ein großes Leistungspotenzial? Verdienen Fähigkeiten und Kenntnisse, die mit einem Migrationshintergrund einhergehen nicht mehr Anerkennung und Wertschätzung auf dem Arbeitsmarkt?

Interviews mit Sozialarbeitern und Polizeibeamten

Mit diesen Gedanken im Kopf habe ich im Rahmen meiner Masterarbeit das Gespräch mit Arbeitnehmern gesucht, die nicht nur einen Migrationshintergrund haben, sondern auch in Branchen tätig sind, in denen Sprach- und Kulturkenntnisse häufig genutzt werden, also einen direkten Mehrwert versprechen. Ich habe sowohl mit Sozialarbeitern als auch mit Polizeibeamten gesprochen.

Die Gespräche mit beiden Berufsgruppen ergaben das, was ich vermutet habe: Sowohl Sozialarbeiter als auch Polizeibeamte mit Migrationshintergrund übernehmen regelmäßig wichtige sprachliche und kulturelle Vermittlungsleistungen. Sie erleichtern so nicht nur den Arbeitsalltag für ihre Kunden und Kollegen, sondern erbringen für ihre Arbeitgeber auch kostengünstig wichtige Zusatzleistungen, für die sonst zusätzliches Personal engagiert werden müsste.

Wir sprechen hier aber nicht nur über klassische Übersetzertätigkeiten, der Einsatz von Sprach- und Kulturkenntnissen gestaltet sich in der Berufspraxis wesentlich vielfältiger. So berichtete mir beispielsweise ein Polizeibeamter, dass er mehrfach Gefahrenlagen abwenden konnte, da er seine Kollegen vorzeitig über geheime, nicht auf Deutsch getroffene Absprachen zwischen Verdächtigen informieren konnte. Bei den Sozialarbeitern ermöglichte die kulturelle Nähe häufig einen besseren Zugang zu Kunden, die aus dem gleichen oder einem ähnlichen Kulturkreis stammen. Das Verstehen von kulturellen Besonderheiten, der Aufbau von Vertrauen und das Einnehmen einer Vorbildfunktion sind unabdingbar für eine funktionierende Sozialarbeit. Sozialarbeiter mit Migrationshintergrund schaffen hier auf zwischenmenschlicher und emotionaler Ebene einen wichtigen Mehrwert.

Wertschätzung? Anerkennung?

Fraglich bleibt, ob diese Zusatzkompetenzen auch mit einer wertschätzenden, karrierefördernden Anerkennung einhergehen. Die Ausführungen meiner Interviewpartner erschienen hier leider wenig hoffnungsvoll: Weder im Rahmen von Einstellungs- noch bei Beurteilungs- und Beförderungsgesprächen nahmen die mit dem Migrationshintergrund verbundenen Sprachkenntnisse und interkulturellen Fähigkeiten den Stellenwert einer vollwertigen beruflichen Zusatzqualifikation ein.

Was sind die Gründe hierfür? Warum gewinnen Sprachkurszertifikate oder Zeugnisse von ausländischen Hochschulen im beruflichen Qualifikationsportfolio zunehmend an Bedeutung, während ähnliche Fähigkeiten, sobald sie mit einem Migrationshintergrund einhergehen, maximal ein „nice to have“ darstellen?

Die mangelnde Anerkennung liegt meiner Meinung nach darin begründet, dass Arbeitnehmer mit Migrationshintergrund Kompetenzen mitbringen, die sich nur schwer in Form von Zertifikaten dokumentieren lassen. Zeitgleich sind es aber gerade diese Zertifikate, die Unternehmen sehen wollen. Zertifikate entscheiden in unserer heutigen Gesellschaft darüber, was als Qualifikation anerkannt wird und was nicht.

Es ist allerhöchste Zeit umzudenken. Insbesondere in Zeiten wachsender integrationspolitischer Herausforderungen brauchen wir Sprach- und Kulturvermittler. Anstatt diese wertvollen Zusatzqualifikationen als naturgegeben zu begreifen, müssen sie vielmehr als im Rahmen der Sozialisation erlernte Kompetenzen verstanden werden. Kompetenzen, die es verdienen als vollwertige berufliche Qualifikationen anerkannt zu werden. Leitartikel Meinung

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  1. Roman sagt:

    Danke für die Einblicke in Ihre Forschungsarbeit. Wenn ich es richtig verstehe, haben Sie festgestellt, dass ein Migrationshintergrund für Bewerbungen als Polizist*in und Sozialarbeiter*in nicht als „Zusatzqualifikation“ anerkannt werden. Das sollte tatsächlich anerkannt werden, da stimme ich Ihnen zu. Haben Sie denn Einblicke, ob ein „Sprachzertifikat“ oder eine „Teilnahme an einem interkulturellen Seminar“ bei den gleichen Stellenausschreibungen (im Bereich Polizei und Sozialarbeit) als „Zusatzqualifikation“ anerkannt wurde?

  2. Sicher wird interkulturelle Kompetenz zu wenig berücksichtigt. Ich warne aber vor dem Trugschluss, dass eine mehrsprachig aufgewachsene Person ohne einschlägiges Studium zum qualifizierten Übersetzen und Dolmetschen befähigt ist. Dennoch gibt es sicher Situationen, in denen Mehrsprachigkeit eine wertvolle Zusatzqualifikation ist.