Überfall, Waffe, Pistole, Straftat, Rassismus, Islamfeindlichkeit
Ein Mann mit einem Kapuzenshirt schießt in der türkischen Bäckerei auf eine Verkäuferin mit Kopftuch © Szene aus dem Video der Überwachungskamera

Schüsse in Heilbronn

Der NSU-Komplex wirkt weiter

Wenige Tage nach dem Urteilsspruch im Münchner NSU-Prozess wird in einer Bäckerei auf eine Verkäuferin mit Kopftuch geschossen. Eine Verbindung zum NSU? Für Staatsanwalt und Polizei ist das kein Thema. Ein Gastbeitrag vom "NSU-Tribunal"

Von Von Initiative Tribunal „NSU-Komplex auflösen“, Berlin Donnerstag, 26.07.2018, 5:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 31.07.2018, 12:27 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Ein Mann stürmt mit einer Luftdruckpistole am helllichten Tag in eine türkische Bäckerei in Heilbronn und schießt auf die Verkäuferin. Die Frau trägt ein Kopftuch. Die Pistole ist zum Glück nicht geladen, die Frau kommt mit einem Schrecken davon. Im Netz wird eine Verbindung des Vorfalls zu den Taten des NSU rege diskutiert. Der Polizeisprecher Frank Belz bezeichnet diese Verbindung als „an den Haaren herbeigezogen“.

Offensichtliche Parallelen

„An den Haaren herbeigezogen“ ist der Vergleich sicherlich nicht, dazu gibt es zu viele Ähnlichkeiten und verbindende Elemente. Alle Opfer des NSU wurden am helllichten Tag hingerichtet. Alle Opfer waren Kleingewerbetreibende. Alle Opfer wurden von den Tätern als „ausländisch“ eingeordnet. Heilbronn war zudem bereits 2007 Tatort des Mordes an Michèle Kiesewetter, dem einzigen Opfer ohne Einwanderungsgeschichte . Hinzu kommt die zeitliche Nähe zum Urteilsspruch im NSU-Prozess, in dem der vorsitzende Richter Manfred Götzl für zwei angeklagte überzeugte Nazis so niedrige Strafen aussprach, dass die im Gerichtssaal anwesenden Neo-Nazis Beifall klatschten. Wie Alexander Hoffman, Nebenklagevertreter im NSU Prozess, auf der Kundgebung vor dem Gerichtssaal am Tag der Urteilsverkündung zusammenfasste, seinen die milden Strafen eine Aufforderung ähnliche Taten zu begehen. Die Aufforderung kam offensichtlich an – rassistische Hinrichtungen scheinen salonfähig zu werden.

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Ähnlichkeit hat auch, dass der Besitzer des Ladens auf ein rassistisches Motiv der Tat hingewiesen hat und die Polizei nach alter Manier den Hinweis vernachlässigt. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass die Staatsanwaltschaft und die Polizei in ihrer Pressemitteilung den polnischen Migrationshintergrund des Täters erwähnen, aber kein Wort über die Opfer verlieren. Die Verkäuferin, auf die gezielt wurde, trug ein Kopftuch, der Tatort ist eine bekannte türkische Bäckerei. Wer also eine Verbindung zum NSU von vornherein als „an den Haaren herbeigezogen“ bezeichnet, hat nichts aus dem NSU-Komplex gelernt. Für die Heilbronner Polizei gilt, so scheint es, weiter die Prämisse, die schon bei den Taten des NSU die Aufklärung verhindert hat: „Es gibt keine rechtsterroristische Gefahr in Deutschland, es sind nur verwirrte Einzeltäter.“ – Insofern konsequent wurde der Heilbronner Täter bereits in die Psychiatrie eingewiesen. Dieses Muster der Pathologisierung von Tätern ist nicht neu. Zuletzt wurde es deutlich 2016, als ein rassistischer Attentäter neun Menschen aus Einwanderungsfamilien vor dem OEZ in München ermordete und die Staatsanwaltschaft bis zuletzt ein rassistisches Motiv leugnete.

Dieses Muster muss endlich durchbrochen werden! Die Ermittlungen müssen zügig ein rassistisches Tatmotiv und mögliche Verbindungen des Täters zur rechten Szene aufklären. Das ist ureigenste Aufgabe der Polizei und vor allem der Staatsanwaltschaft als Hüterin des Ermittlungsverfahrens.

In der Konsequenz ist es irrelevant, ob der Heilbronner Täter direkte Verbindungen zum NSU-Netzwerk hat. Seine Tat reiht sich auch dahingehend in die Taten des NSU ein, als dass er den Opfern Angst einjagt und ihnen das sichere Umfeld raubt. Die auszubildende Fachverkäuferin hätte in der darauffolgenden Woche ihre Abschlussprüfung abgelegt, nun ist sie bis auf Weiteres krankgeschrieben. Der Besitzer der Bäckerei befürchtet, dass ein weiterer Täter mit geladener Waffe sein Geschäft aufsuchen könnte. Diese Verunsicherung und Traumatisierung der Opfer war eines der Ziele, die auch der NSU verfolgte. Ihnen ist das geglückt, für einen viel zu langen Zeitraum wurden die Opfer kriminalisiert, stigmatisiert, und von einem Großteil der Gesellschaft alleingelassen. Auch wenn im Heilbronner Fall der Täter bereits gefasst wurde, fehlt dennoch ein klares Zeichen, dass sich die ermittelnden Beamt*innen an die Seite der Opfer stellen und ihren Forderungen in Richtung einer rassistischen Motivation zu ermitteln gezielt nachgehen.

Lehren aus dem NSU-Komplex und Forderungen an die Staatsanwaltschaft Heilbronn

Ein mögliches rassistisches Motiv ist für die Tat, nicht nur aus der Perspektive der Betroffenen, sondern auch von juristischer Seite von herausragender Relevanz. Das ergibt sich bereits aus den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV), an die die Staatsanwaltschaft gebunden ist. Danach ist ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung anzunehmen, wenn der Täter aus rassistischen, fremdenfeindlichen oder sonstigen menschenverachtenden Beweggründen gehandelt hat. Die Markierung des Tatortes als türkisch und die Religion oder Herkunft des Opfers sind starke Indizien für die Tatmotivation.

Die Staatsanwaltschaft Heilbronn sei auch an die Empfehlungen des 1. NSU- Bundestagsuntersuchungsausschusses erinnert: „In allen Fällen von Gewaltkriminalität, die wegen der Person des Opfers einen rassistisch oder anderweitig politisch motivierten Hintergrund haben könnte, muss dieser eingehend geprüft und diese Prüfung an geeigneter Stelle nachvollziehbar dokumentiert werden“ lautet die 1. Empfehlung des Ausschusses. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte leitet in ständiger Rechtsprechung aus Artikel 2, 3 EMRK in Verbindung mit Artikel 14 EMRK eine verfahrensrechtliche Ermittlungspflicht der Vertragsstaaten bezüglich rassistischer Motive her.

Es ist bezeichnend, dass auch in diesem Fall erst eine kritische Öffentlichkeit oder die Anwält*innen des Opfers, Polizei und Staatsanwaltschaft an ihre Verpflichtungen erinnern müssen und aus rechtsstaatlicher Perspektive ungeheuerlich. Die Muster und institutionellen Routinen, die den NSU-Komplex überhaupt ermöglicht haben, müssen endlich aufgebrochen werden! Leitartikel Meinung

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