"Geld versenkt"
Expertin kritisiert ethnozentristische Entwicklungspolitik
Viele Entwicklungsprojekte sind der Entwicklungspsychologin Heidi Keller zufolge nutzlos, weil sie ein westliches Menschenbild zugrundelegen. Das gehe an den Realitäten der Menschen oft vorbei und seien nicht hilfreich.
Von Martina Schwager Donnerstag, 12.10.2017, 6:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 12.10.2017, 17:04 Uhr Lesedauer: 2 Minuten |
Viele Entwicklungsprojekte internationaler Organisationen sind nach Auffassung der Entwicklungspsychologin Heidi Keller nutzlos oder sogar kontraproduktiv, weil sie ein westliches Menschenbild zugrunde legen. „Wir haben eine ethnozentristische Sichtweise, halten also unsere Wertvorstellungen und Verhaltensmuster für die einzig richtigen und transportieren sie ungefragt und ungeprüft auf afrikanische und asiatische Gesellschaften“, sagte die emeritierte Professorin der Universität Osnabrück dem Evangelischen Pressedienst. Sie forderte eine kultursensiblere Entwicklungszusammenarbeit.
Förderprojekte für Kinder in Entwicklungsländern etwa setzten oft auf eine enge Mutter-Kind-Beziehung. „Dabei sind in ländlichen Gebieten in Afrika die Haupterziehungs- und Bindungspartner für Kinder andere Kinder“, erläuterte Keller. Hilfswerke wie Unicef oder die WHO starteten Programme, ohne sich über die Bedürfnisse der Menschen vor Ort zu erkundigen. In einem Dorf im Senegal etwa hätten Kleinkinder Sprachförderung erhalten. Die Tatsache, dass nonverbale Kommunikation in dem betreffenden Volksstamm eine große Rolle spiele, sei nicht beachtet worden: „Das ist übergriffig. Im besten Falle wird nur eine Unmenge Geld versenkt. Im schlimmsten Falle werden Sozialisationsstrategien zerstört.“
Auch die Vorstellung, dass Kinder individuelle Rechte hätten, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention festgelegt seien, entspreche westlichen Wertvorstellungen, sagte Keller. Die Vereinten Nationen als oberster Wächter dieser Rechte seien ebenfalls ein Konstrukt dieses Weltbildes. „Da ist es klar, dass längst nicht alle Staaten sich daran halten, auch wenn sie das Papier unterzeichnet haben.“ Sie plädierte dafür, dass eine Kommission die Konvention kulturspezifisch überarbeitet.
Kulturelle Eigenheiten bei Integration berücksichtigen
In vielen Gesellschaften stehe nicht das Individuum im Vordergrund, sondern die Gemeinschaft, zu deren Erhalt die Kinder selbstverständlich beitrügen, sagte Keller. Dort sei auch Kinderarbeit nicht per se verpönt. „Natürlich sollen Kinder nicht unter unmenschlichen Bedingungen in Steinbrüchen schuften müssen, aber warum sollen sie nicht mit leichten Arbeiten zum Lebensunterhalt ihrer Familien beitragen?“ Die Privatsphäre, also ein eigenes Zimmer für Kinder, sei nicht überall ein wünschenswertes Kulturgut. Der Klaps, ein Kniff oder ein kurzes Haareziehen werde nicht in jeder Gesellschaft als Gewalt definiert. „Es gibt nicht eine einzige richtige Art, Kinder zu erziehen.“
Bei der Integration der Migranten in Deutschland müssten deren kulturelle Eigenheiten ebenfalls viel mehr berücksichtigt werden, forderte Keller. Studien in den USA und die Erfahrungen mit Indianern in Kanada zeigten, dass Angehörige von Minderheiten gesünder seien, wenn sie ihre eigenen Traditionen, ihre Sprache und Kultur aufrechterhalten dürften. (epd/mig) Aktuell Panorama
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Ich möchte Heidi Keller zustimmen, denn Identitätskonzepte sind nicht 1:1 zwischen Gesellschaften übertragbar, wie ich in meiner Diss. herausgearbeitet habe:
„Möglicherweise verstellt das Konstrukt der „Ich-Identität“ in der sprachlich-kognitiven Bedeutung Meads wichtige Sichtweisen des menschlichen Zusammenlebens, wie z.B. Kooperation, Partnerschaft, Gruppenzusammenhalt oder Teamgeist. Es besteht die Gefahr, dass ein kulturabhängiges Verständnis der Ich-Entwicklung in ethnozentrischer Manier auf Menschen anderer Nationen oder anderer Bevölkerungsgruppen übertragen wird. (Zellerhoff, 2009, 55f.)
Sehr geehrte Martina Schwager,
zunächst möchte ich mich für ihren Artikel bedanken. Allerdings ist es mir am Ende aufgestoßen im letzten Absatz lesen zu müssen, dass sie den Begriff „Indianer“ verwenden.
Dies ist auch eine koloniale Zuschreibung von uns Europäer*innen. So wie Noah Sow erläutert „Der Begriff dient kolonialen europäischen Gesellschaften zur ABgrenzung ihrer eigenen Gruppe von der Gruppe derer, die sie überfallen (haben).
Widerstandsprozesse von mit dem Begriff „Indianer“ bezeichneten Menschen oder Kollektiven haben Community-übergreifende solidarische Eigenbezeichnungen wie First Nations People of America (auch: „First Nations“) oder Pueblos Originarios hervorgebracht. Auch die seit jeher bestehenden spezifischen Eigenbezeichnungen (etwa Sioux, Lakota, Okanagan, Inuit u.v.m.) werden selbstbewusst verwendet.“ möchte ich sie bitten darüber nachzudenken den Begriff in Ihrem Artikel verändern zu lassen.
Vielen Dank und herzliche Grüße!
Sofia
Konsequent zu Ende gedacht müsste man dann die Entwicklungshilfe ganz einstellen. Denn das Unterstützen und Fördern anderer Länder ist ja auch ein sehr westliches Ideal. In den besagten Beispielen zählt die Sippe bzw. Dorfgemeinschaft und sonst nichts.