Die Drei-Täter-Theorie wird zunehmend unglaubwürdiger © MiG
Die Drei-Täter-Theorie wird zunehmend unglaubwürdiger © MiG

Brief an die Öffentlichkeit

NSU-Opferanwälte werfen Generalbundesanwalt Irreführung vor

In einem Brief an die Öffentlichkeit melden sich die Anwälte der NSU-Opfer zu Wort. Darin kritisieren sie das Plädoyer der Bundesanwaltschaft scharf. Sie werfen ihm Irreführung durch verzweifeltes Festhalten an der "Drei"-Täter-These vor. MiGAZIN veröffentlicht den Brief im Wortlaut:

Dienstag, 01.08.2017, 20:55 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 07.08.2017, 17:47 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Die Bundesanwaltschaft hat mit ihrem Plädoyer versucht, die Deutungshoheit über den NSU-Komplex zurückzuerlangen. Sie hat sich aber nicht darauf beschränkt, ihre lange überholte „Trio“-These auszubuchstabieren, sondern gleichzeitig all diejenigen diffamiert, die ihre Sichtweise nicht teilen, wie unter anderem Obleute der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, Journalisten und Nebenklägervertreter. Wer wie diese meint, dass der NSU mehr war als ein abgeschottetes „Trio“ wurde von Dr. Diemer als „Irrlicht“ bezeichnet und entsprechende Äußerungen als „Fliegengesumme“.

Oberstaatsanwältin Greger ging so weit zu behaupten, einige Nebenkläger hätten ihren Mandanten „versprochen“, es hätte an den Tatorten „rechte Hintermänner“ gegeben. Dafür hätten angeblich weder die Ermittlungen des BKA, noch die Untersuchungsausschüsse, noch das Gerichtsverfahren in seinen 374 Hauptverhandlungstagen Anhaltspunkte erbracht.

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Diese haltlose Behauptung unterstellt einigen Anwälten standeswidriges Verhalten, spricht den Mandanten ihr eigenes Urteilsvermögen ab und führt die Öffentlichkeit in die Irre. Zugleich sind diese Angriffe Ausdruck der Schwäche der Argumentation der Bundesanwaltschaft, es bleibt ihr nicht mehr als die bloße Behauptung:

Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt haben hat nicht ermittelt

Die Bundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt haben nicht nur aus Sicht der Nebenklage nicht alles getan, um weitere Unterstützer insbesondere an den Tatorten zu ermitteln. Auch der zweite Untersuchungsausschuss des Bundestages hat dies mit deutlichen Worten einstimmig festgestellt. Die Aufarbeitung des NSU-Komplexes auf Grundlage dieser mangelhaften Ermittlungen hat daher keineswegs ergeben, dass örtliche Unterstützer des NSU nicht existierten. Vielmehr ist gesichert, dass die Bundesanwaltschaft nach solchen Verdächtigen nicht mit der notwendigen Intensität gesucht hat.

Die Bundesanwaltschaft hat daher ihre Position – die Ermittlungen hätten gezeigt, es gäbe keine Unterstützer an den Tatorten – bislang auch nicht belegt. Vielmehr hat sie alles getan, dass diese Ermittlungsinhalte – soweit es überhaupt Ermittlungen in diese Richtung gab – nicht bekannt werden. Anträge von Nebenklagevertretern auf Einsicht in Akten zu diesen Ermittlungen wurden immer wieder abgelehnt.

Keine Beweiserhebung zu möglichen Unterstützern

In keinem Fall wurde in der Hauptverhandlung vor dem OLG München zu möglichen Unterstützern an Tatorten oder weiteren unbekannten Unterstützern Beweis erhoben. Die Bundesanwaltschaft ist vielmehr Anträgen und Fragen aus der Nebenklage zur Aufklärung von konkreten Hinweisen zu Unterstützern an den Tatorten stets mit der Begründung entgegengetreten, dass diese nicht verfahrensrelevant wären.

Die Untersuchungsausschüsse hatten keine eigene Ermittlungskompetenz und keine effektiven Möglichkeiten, um selbst weitere Unterstützer oder Mitglieder des NSU zu ermitteln.

Nicht belegte Behauptung der Bundesanwaltschaft

Auch die Bundesanwaltschaft sieht offensichtlich Lücken in den eigenen Ermittlungen. So hat Oberstaatsanwältin Greger in ihrem Plädoyer beispielsweise eingeräumt, dass die Herkunft von allein drei der 20 beim NSU gefundenen Schusswaffen ermittelt wurde.

Damit stellt es eine schlicht nicht belegte Behauptung der Bundesanwaltschaft dar, dass der NSU keine örtliche Hilfe beim Ausspähen der z.T. versteckten Tatorte hatte. Mindestens weitere 17 Schusswaffen, der Sprengstoff und die Munition müssten nach dieser Logik allein von Unwissenden gekommen sein. Das Lied „Döner-Killer“ wäre ohne Kenntnis vom NSU entstanden und der an rechte Szenemagazine versandte so genannte NSU-Brief wäre von keinem der Adressaten verstanden worden, usw.

Verzweifeltes Festhalten an der „Trio“-These

Das verzweifelte Festhalten der Bundesanwaltschaft an der These vom isolierten „Trio“ trotz einer Vielzahl entgegenstehender Hinweise und offener Fragen lässt sich im Wesentlichen durch zwei zentrale Motive erklären:

Je größer das wissende Netzwerk von Unterstützern war, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Behörden über ihre zahlreichen V-Leute um den NSU herum Kenntnis von dessen Existenz und Taten hatten. Zugleich verschleiert die These vom abgeschotteten Trio das Ausmaß militanter Nazistrukturen in Deutschland. Damit wiederholen die Sicherheitsbehörden ihr Verhaltensmuster, das erst die dreizehnjährige Existenz des NSU mit ermöglichte.

Bundesanwalt verunsichert Familien der Mordopfer

Eine Verkehrung der Umstände stellt die Behauptung von Bundesanwalt Dr. Diemer dar, die Verletzten und Hinterbliebenen des NSU-Terrors und die Öffentlichkeit würden verunsichert, wenn man die These des abgeschotteten Trios in Frage stellen würde. Tatsächlich ist die Verunsicherung bei den Familien der Mordopfer und der Bombenanschläge groß, weil weiterhin Unklarheit über das Ausmaß neonazistischer Strukturen, staatliches Wissen und damit auch die eigene weitere Gefährdung besteht. Gerade das liegt in der Mitverantwortung der Bundesanwaltschaft.

Die unterzeichnenden Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte: Seda Başay-Yıldız, Antonia von der Behrens, Dr. Mehmet Daimagüler, Dr. Björn Elberling, Berthold Fresenius, Alexander Hoffmann, Carsten Ilius, Stephan Kuhn, Sebastian Scharmer, Dr. Peer Stolle

Wir rufen die Öffentlichkeit dazu auf, die Plädoyers der Nebenklage zahlreich zu besuchen und sich ein eigenes Bild zu machen. Dort werden im Gegensatz zur Bundesanwaltschaft die ideologische und strukturelle Einbettung des NSU in eine organisierte rechte Szene, das staatliche Mitverschulden, die Auswirkungen der Taten auf die Betroffenen und die über Jahre hinweg betriebenen strukturell rassistischen Ermittlungen eine Rolle spielen. In den Plädoyers der Nebenklage werden auch erstmals sechs Familien von durch den NSU Ermordeten, von denen im Prozess niemand als Zeuge gehört wurde, die Möglichkeit haben, selbst oder über ihr Anwälte, ihre Sichtweise darzulegen. Leitartikel Panorama

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  1. Zoran Trajanovski sagt:

    Haben die Opferanwälte wirklich etwas anderes erwartet ?
    Leben die in Deutschland oder anderswo?
    Nie über Rassistische und Menschenfeindliche Herschende Zeitgeist in Deutschland gehört?
    Über strukturelle Rassismus bei der Polizei, sogenante V-Leute ?
    Nie über Willkür bei der Justiz?
    Erinern wir uns an das öffentliche Brief von Ralf Gordano an damaligen Bundeskanzler H.Kohl von 23.Novenber 1992 ?
    Welche Motive hatten Ralf Gordan dazu getriben?
    Antwort; das Höhepunkt rechtsextreme Gewalt gegen Ausländer mit deutlich
    auch antisemitischem Charakter.
    Deutsche Staat hatte sich Radikalisirt. Das spüren wir Ausländer täglich.Und eine ende ist nicht im sicht. Wir sind alle verunsichert. Tötungen, Diskriminierungen, Stigmatisierunge, Verhaftungen, zwangsläufige Auslieferungen ins forensische ZfP und Vernichtunge von Menschen. Alles das ist in Berliner Republik , ins vereinigte Deutschland wieder möglich geworden. Keiner kann etwas dagegen unternehmen. Intellektuellen die ihre Stimme gegen wieder gefährlich gewordenen Deutschland erhoben hatte ,bekamen Drohungen das die die ganze Härte des Deutschen staates zu spüren bekommen würde falls sie sich so so oder so benehmen wurde.
    Nun unsere Leben sind nicht von Himmel gefallen das wir Gewalt verschiedenen Form, von seiten Deutschen Staates gut heißen.
    Wen in eine solche Gerichtsverfahren,Bundesanwalt sich so benommen hatte ,wie er sich benommen hatte, was glauben sie wie die mächtigen dan sich gegen eine Individuen benehmen der auf sich selbst gestellt ist?
    Es ist so beängstigend das ganzes wirtlich, und ein Beweis für sich das Kulturelle Haltung bei den Deutschen einen Nationalistische b.z.w. rasisch geprägt sei.

  2. Pingback: Hinweise des Tages | NachDenkSeiten – Die kritische Website

  3. Die Melone sagt:

    Kann mich der Meinung von @Zoran Trajanovski leider nur anschließen: Dieses Land ist rassistisch durchsetzt, egal wie viel Geld für alle möglichen Projekte ausgegeben wird, um uns vom Gegenteil zu überzeugen. Die rechte Gewalt ist nichts weiter als die logische Folge des Rassismus innerhalb der Gesellschaft.

    Uns wird immer erzählt, Rechtsextremismus entstünde aus Langeweile, Zukunftsangst, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, aus falscher Erziehung etc., aber dass die Menschen, die darunter leiden, zu Neonazis werden, ist ein nahezu rein deutsches Phänomen. Andere Länder gehen für ihre Rechte auf die Straße, machen Generalstreik, hier beißt man sich an irgendwelchen Minderheiten fest, halluziniert sich eine Bedrohung durch alles herbei, das man nicht kennt oder das fremd aussieht.

    Wie man spätestens seit dem NSU-Prozess gesehen hat, sind „unsere Behörden“ auf dem rechten Auge blind. Die Behörden sind wohl selbst rechtsextremistisch durchsetzt. Wenn ich an das Shreddern wichtiger NSU-Akten denke, kann ich nicht mehr an einen Zufall oder Unfall oder so etwas glauben.

    In diesem Rahmen soll noch mal daran erinnert werden, warum das erste NPD-Verbot 2003 gescheitert ist: Wegen der „fehlenden Staatsferne“ der NPD, aufgrund der vielen V-Männer des Verfassungsschutzes in der Partei. Der Staat war quasi selbst an den Beschlüssen der NPD beteiligt. Man zog aus, eine völlig vernachlässigbare Partei (0,3 % Stimmenanteil bei der Bundestagswahl 1998, 0,4 % bei der Bundestagswahl 2002) zu verbieten und am anderen Ende kam ein Verfassungsschutzskandal heraus. Bei der Wahl 2005 konnte die NPD ihr Wahlergebnis dann auf 1,6 % vervierfachen. Hat echt was gebracht, das Verbotsverfahren. Zumindest der NPD.

    Man google nur mal nach „Nazis nach 1945“ und wird schnell sehen, dass die Nazis nie weg waren. Man hat sich halt einfach nach der Auflösung der NSDAP eine neue Partei gesucht und die Dinge gingen ihren gewohnten Weg. Der Krieg mag zu Ende gegangen sein, an der Gesinnung wird dies bei den meisten nichts geändert haben. Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Nazis nach dem Krieg bei den Behörden untergekommen sind.

    Wer sich übrigens wundert, warum „der Osten“ scheinbar so schlimm rechts ist: Die DDR war auch rechtsextrem – gerade als Gegenreaktion zum Sozialismus -, es wurde nur von der Staatsführung verschwiegen.

    Sowohl das gescheiterte NPD-Verbot als auch der NSU-Prozess sind ein Verfassungsschutzskandal. Und jetzt nähert sich dieser NSU-Prozess dem Ende und lässt mehr Fragen offen als geklärt werden. An das angebliche Trio glaube ich schon lange nicht mehr. Wieder mal wollen „die Behörden“ irgendwas vertuschen. Geht es darum, die rechte Gefahr herunterzuspielen oder darum, weitere Behörden-Skandale zu vertuschen?

    Schlimm genug, dass Nazis jahrelang Menschen umbringen konnten, dann sträubte man sich davor, in der rechtsextremen Szene zu ermitteln und sprach stattdessen lieber von „Döner“-Morden und jetzt werden offensichtlich offene Fragen abgewürgt. Es macht mich sprachlos …

    Und da sollen die Leute nicht das Vertrauen in den Staat und seine Instanzen verlieren?

  4. Illoinen sagt:

    War das jemals anders? Wer erinnert sich noch an die RAF? Hier wurde seitens des Staates auch alles getan, diese Gruppe nur als eine kriminelle Vereinigung darzustellen. Was diese Menschen radikalisierte, sei an die Ermordung von Ohnesorg erinnert, dessen Täter mehrfach frei gesprochen wurde, wie wir heute wissen war es anders. Das Attentat auf das Münchner Oktoberfest, wurde auch als Einzeltäter Version in der Öffentlichkeit dargestellt? Alleine seit dem Mauerfall gab es mehr als 170 Opfer rechter Ideologien, wie viele Täter wurden ermittelt, bzw. angeklagt und verurteilt? Im Mainstream wird regelmäßig in Deutschland immer fast ausschließlich auf die Gefahren von dem sog. „Linksextremismus“ in Deutschland verwiesen? Wie viele Menschen aber wurden auf Grund von Linksextremismus in Deutschland nach dem 2 WK ermordet, und wie viele auf Grund von Rechtsextremismus? Bis heute zieht sich diese menschenverachtende Ideolgie wie ein roter Faden durch das Land, nur weil Deutschland den Krieg verlor, war doch die menschenverachtende Ideologie nicht weg. Demokratische Einstellungen kann man nicht von Oben herab verordnen.

  5. Die Melone sagt:

    @Illoinen schrieb:

    Im Mainstream wird regelmäßig in Deutschland immer fast ausschließlich auf die Gefahren von dem sog. „Linksextremismus“ in Deutschland verwiesen?

    Man will sich dem wahren Problem nicht stellen: Um den Rechtsextremismus zu besiegen muss „die Gesellschaft“ von der völkischen Definition, was „deutsch“ und wer „Deutscher“ ist, wegkommen. Es gibt keine gemeinsame völkische Abstammung, auf die sich „die Deutschen“ berufen können. Deutscher wird man allein durch seinen deutschen Pass. Wir sind alle Menschen, die sich auf die selben Vorfahren zurückverfolgen lassen, auch wenn wir verschieden aussehen.

    Aber da geht „man“ (Sigmar Gabriel) viel lieber hin und bezeichnet Rassisten als „Pack“, Super, Siggi, dadurch sind jetzt wohl auf einen Schlag alle Rassisten ausgestorben. Aber Hauptsache, sich nicht dem wahren Problemen stellen zu müssen.

    Wie viele Menschen aber wurden auf Grund von Linksextremismus in Deutschland nach dem 2 WK ermordet, und wie viele auf Grund von Rechtsextremismus?

    Wikipedia listet ca. 179 Opfer rechter Gewalt. Zu linksextremer Gewalt fallen mir höchstens die 34 Todesopfer der RAF ein (insofern man die Opfer einer weltanschaulichen Gesinnung mit den Opfern einer Terrororganisation vergleichen will). Uns wird trotzdem vorgegaukelt, wir müssten Links- und Rechtsextremismus gleichermaßen bekämpfen. Es handelt sich dabei um eine völlig unangebrachte Gleichmachung. Konzentrieren wir uns lieber erst mal auf den Rechtsextremismus.

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