Innen Leben, Kino, Film, Syrien, Krieg, Flucht, Flüchtlinge
Szene aus "Innen Leben" © Kinowelt

Kino

Eingeschlossen im syrischen Krieg

Der belgische Regisseur Philippe Van Leeuw konzentriert in seinem Spielfilm "Innen Leben" den Syrienkrieg auf ein Kammerspiel. In einer Wohnung verbarrikadiert suchen neun Menschen Schutz vor den Gräueln - eine hoffnungslose Lage.

Von Tim Lindemann Donnerstag, 22.06.2017, 4:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 22.06.2017, 17:02 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

„Vergiss die Welt da draußen. Sie zählt nicht mehr,“ sagt der Schwiegervater zu Oum Yazan (Hiam Abbass), als sie einen Moment lang am Fenster verweilt und auf den tristen Parkplatz vor dem Haus blickt. Die Außenwelt ist in „Innen Leben“ bildlich verschwunden. Es existiert nur noch das Innere der kleinen Wohnung, in der neun Menschen Zuflucht vor den Kriegsgräueln gefunden haben, aber dennoch in ständiger Angst leben müssen. Nur einmal wird die Kamera im Laufe des Films die ebenso schützenden wie beklemmenden Wände des Appartements verlassen. „Innen Leben“ ist ein Kriegsfilm im extremen Close-Up: Der allumfassende Schrecken des Krieges in Syrien wird hier auf der Mikroebene verhandelt und offenbart sich so auf ganz unmittelbare Weise.

Die Schicksalsgemeinschaft im Zentrum des Films ist aus verschiedenen Familien zusammengesetzt: Neben der resoluten Hausherrin Oum Yazan und ihren Kindern sind da noch das Dienstmädchen Delhani sowie das junge Paar Halima (Diamand Bou Abboud) und Samir, die mit ihrem Baby in Richtung Libanon fliehen wollen. Als Samir am Morgen jedoch das Haus noch einmal verlässt, wird er direkt vor der Haustür von einem Scharfschützen erschossen. Nur Delhani hat die grauenvolle Szene beobachtet – soll sie es der jungen Ehefrau mitteilen? Oum Yazan untersagt es ihr sofort, fürchtet sie doch eine emotionale Überreaktion Halimas, welche die gesamte Gruppe gefährden könnte. Aber was, wenn Samir noch lebt?

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Info: Belgien/Frankreich/Libanon 2017. Regie und Buch: Philippe Van Leeuw. Mit: Hiam Abbass, Diamand Abou Abboud, Juliette Navis, Mohsen Abbas, Moustapha Al Kar. Länge: 85 Minuten. FSK: ab 12 Jahren. Internet: www.innenleben-film.de

Aufgebaut um diesem erschütternden moralischen Zwiespalt erinnert der Film des belgischen Regisseurs Philippe van Leeuw an die psychologischen Gratwanderungen des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi (Goldener Bär der Berlinale für „Nader und Simin“). Wo Farhadi aber meist Distanz zu seinen Figuren aufbaut, bleibt van Leeuw entsprechend des Kammerspielcharakters seines Films ständig ganz nah dran. Oft folgt die Kamera den Protagonisten durch die Flure der Wohnung, als wolle der Film sie für keine Sekunde aus den Augen lassen. Als das Grauen des Krieges schließlich mit fürchterlichen Konsequenzen in die vermeintlich sicheren vier Wände schwappt, durchbricht es diese sorgfältig aufgebaute Raumkonstruktion umso drastischer.

Bizarr anmutende Reliquien eines bürgerlichen Lebens

Dazu trägt auch das detailreiche Setdesign des Schauplatzes bei: Eine Quietscheente im Bad, Band- und Filmplakate im Jugendzimmer sind fast bizarr anmutende Reliquien eines vormals bürgerlichen Lebens, das nun in Trümmern liegt. Die Normalität, die solche Überreste einer friedlicheren Vergangenheit noch ausstrahlen, wird kontinuierlich vom extrem effektiven Sounddesign negiert: Gebannt folgen die Eingeschlossenen den Klängen der Explosionen und Schüsse von draußen, versuchen einzuschätzen, wie nah oder fern die Gefahr sich gerade befindet.

In diesen Momenten wird auch deutlich, wie perfekt „Innen Leben“ bis hin zu den jugendlichen Nebenrollen besetzt ist; allen voran aber überzeugen die beiden Hauptdarstellerinnen Hiam Abbass und Diamand Bou Abboud, die im letzten Drittel des Films bis an ihre Grenzen gehen. Van Leeuw gewährt mit „Innen Leben“ einen erschreckenden Blick in den Abgrund, der bar jeder Hoffnung am Ende nur wieder zum Anfang zurückkehren kann. (epd/mig) Aktuell Feuilleton

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