Konzentrationslager, Sachsenhausen, KZ, Juden, Holocaust
Konzentrationslager in Sachsenhausen © Mikel Larreategi @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Kleine Geschichtskunde

Nazi-Methoden zum Begreifen

Wer den Nationalsozialismus kennt, muss sich jeden Nazi-Vergleich im Schlagabtausch aktueller politischer Auseinandersetzungen verbieten. Wir Deutsch-Türken leben in diesem Land. Wir sind damit Teil dieser Geschichte. Von Murat Kayman

Von Dienstag, 21.03.2017, 4:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 26.03.2017, 20:32 Uhr Lesedauer: 10 Minuten  |  

Das Ermächtigungsgesetz vom 24.03.1933 trug offiziell den Namen „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“. Es übertrug faktisch alle gesetzgebende Gewalt auf die Regierung unter Adolf Hitler. Es setzte de facto die Verfassung außer Kraft, ermöglichte es der Exekutive auch legislative Gewalt auszuüben, insbesondere auch verfassungswidrige Gesetze zu erlassen und war damit die Grundlage für die Etablierung und den Ausbau der NS-Diktatur.

Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Reichstag und der Ablehnung der Gesetzesvorlage durch die SPD-Fraktion waren die Stimmen der Deutschen Zentrumspartei ausschlaggebend. Ihr Ja zur Gesetzesvorlage begründete der Vorsitzende des Zentrums, Ludwig Kaas, mit folgenden Worten:

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„Die gegenwärtige Stunde kann für uns nicht im Zeichen der Worte stehen, ihr einziges, ihr beherrschendes Gesetz ist das der raschen, aufbauenden und rettenden Tat. Und diese Tat kann nur geboren werden in der Sammlung.

Die deutsche Zentrumspartei, die den großen Sammlungsgedanken schon seit langem und trotz aller vorübergehenden Enttäuschung mit Nachdruck und Entschiedenheit vertreten hat, setzt sich zu dieser Stunde, wo alle kleinen und engen Erwägungen schweigen müssen, bewusst und aus nationalem Verantwortungsgefühl über alle parteipolitischen und sonstigen Gedanken hinweg. […]

Im Angesicht der brennenden Not, in der Volk und Staat gegenwärtig stehen, im Angesicht der riesenhaften Aufgaben, die der deutsche Wiederaufbau an uns stellt, im Angesicht vor allem der Sturmwolken, die in Deutschland und um Deutschland aufzusteigen beginnen, reichen wir von der deutschen Zentrumspartei in dieser Stunde allen, auch früheren Gegnern, die Hand, um die Fortführung des nationalen Aufstiegswerkes zu sichern.“

Die Abgeordneten der liberalen Deutschen Staatspartei stimmten dem Ermächtigungsgesetz ebenfalls zu. Der Abgeordnete Reinhold Maier begründete die Entscheidung seiner Fraktion mit den Worten:

„Wir fühlen uns in den großen nationalen Zielen durchaus mit der Auffassung verbunden, wie sie heute vom Herrn Reichskanzler vorgetragen wurde […]. Wir verstehen, dass die gegenwärtige Reichsregierung weitgehende Vollmachten verlangt, um ungestört arbeiten zu können […]. Im Interesse von Volk und Vaterland und in der Erwartung einer gesetzmäßigen Entwicklung werden wir unsere ernsten Bedenken zurückstellen und dem Ermächtigungsgesetz zustimmen.“

Hitler selbst hielt zum ersten Mal eine Rede vor dem Reichstag und verteidigte seine Gesetzesvorlage mit den Worten:

„Es würde dem Sinn der nationalen Erhebung widersprechen und dem beabsichtigten Zweck nicht genügen, wollte die Regierung sich für ihre Maßnahmen von Fall zu Fall die Genehmigung des Reichstags erhandeln und erbitten. […] Mögen Sie, meine Herren Abgeordneten, nunmehr selbst die Entscheidung treffen über Frieden oder Krieg.“

Das Ermächtigungsgesetz trat am 24.03.1933 in Kraft. Es war die Grundlage für eine Reihe von Verordnungen und Gesetzen, mit der das jüdische Leben in Deutschland nahezu vollständig vernichtet wurde:

April 1933: „Nichtarische“ Geschäfte werden einen Tag lang boykottiert („Kauft nicht bei Juden!“). Juden dürfen keine Anwaltskanzleien mehr eröffnen. Sie dürfen nicht mehr als Patentanwälte praktizieren. „Nichtarische“ Beamte werden in den Ruhestand versetzt. Beamte mit mindestens einem jüdischen Großelternteil werden aus dem Staatsdienst entlassen. Jüdische Ärzte dürfen nicht mehr für Krankenkassen tätig sein. Das rituelle Schächten wird verboten. Die Neuaufnahme von „Nichtariern“ an Schulen und Universitäten wird eingeschränkt.

Mai 1933: Alle jüdischen Arbeiter und Angestellten bei Behörden werden entlassen.

Juli 1933: „Unerwünschten“ kann die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt werden.

Januar 1934: Die Promotion von Juden wird nur noch in Ausnahmefällen anerkannt.

Februar 1934: Jüdische Medizinstudenten werden nicht mehr zur Staatsprüfung zugelassen.

Dezember 1934: Jüdische Apotheker werden nicht mehr zur Prüfung zugelassen.

September 1935: Nur Staatsangehörige deutschen oder „artverwandten Blutes“ können Reichsbürger werden. Juden dürfen nicht mehr Staatsangehörige „deutschen Blutes“ heiraten. Juden dürfen deutsche Hausangestellte unter 45 Jahren nicht mehr beschäftigen. Jüdische Zeitungen dürfen nicht mehr in Geschäften oder im Straßenhandel verkauft werden.

November 1935: Juden verlieren das Wahlrecht

Dezember 1935: Jüdische Notare, Ärzte, Professoren und Lehrer dürfen nicht mehr im Staatsdienst tätig sein.

Oktober 1936: Jüdische Lehrer dürfen nicht mehr als Privatlehrer arbeiten.

Januar 1937: Juden dürfen nicht mehr als Viehhändler arbeiten.

Februar 1937: Juden dürfen nicht mehr als Jäger arbeiten. Juden dürfen nicht mehr als Notare arbeiten.

April 1937: Juden dürfen den Doktorgrad nicht mehr erwerben.

Juli 1937: Juden erhalten nur noch in Ausnahmefällen Auslandspässe.

April 1938: Juden müssen ihr Vermögen abgeben. Juden, die mehr als 5000 Mark besitzen, müssen dies anmelden.

Juni 1938: Alle jüdischen Gewerbebetriebe werden erfasst und gekennzeichnet. Juden dürfen keine Behörden mehr betreten.

Juli 1938: Juden werden bestimmte Gewerbe (z.B. Makler, Heiratsvermittler, Fremdenführer) untersagt. Juden dürfen sich nicht mehr an Kurorten aufhalten. Jüdische Ärzte erhalten Berufsverbot. Alle nach Juden benannte Straßennamen müssen umbenannt werden.

September 1938: Jüdische Rechtsanwälte erhalten Berufsverbot.

Oktober 1938: Juden müssen ihre Reisepässe abgeben. Neue Reisepässe werden nur beschränkt ausgestellt und müssen mit dem Aufdruck „J“ versehen werden.

November 1938: Novemberpogrome gegen Synagogen, jüdische Versammlungsräume, Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe im gesamten Deutschen Reich. Über 400 Todesopfer, etwa 30.000 in KZ’s Deportierte. Zerstörung von fast allen Synagogen im Deutschen Reich. Zerstörung von etwa 7.500 Geschäften, Wohnungen, Gemeindehäusern. Als „Sühneleistung“ für die Pogrome wird der Gesamtheit aller deutschen Juden 1 Milliarde Reichsmark auferlegt. Juden müssen alle Schäden der Pogrome auf eigene Kosten sofort beseitigen. Juden dürfen keine Geschäfte und Handwerksbetriebe mehr führen. Alle jüdischen Betriebe werden aufgelöst. Juden dürfen keine Waffen mehr besitzen, noch führen. Juden dürfen keine Theater, Kinos, Konzerte und Ausstellungen mehr besuchen. Jüdische Kinder dürfen keine öffentlichen Schulen mehr besuchen. Juden dürfen keine Brieftauben mehr halten.

Dezember 1938: Juden werden Führerscheine und Zulassungspapiere für Kraftfahrzeuge entzogen. Jüdische Studenten werden von Hochschulen und Universitäten ausgeschlossen. Juden müssen ihre Betriebe verkaufen, ihre Wertpapiere und Schmucksachen abliefern.

Januar 1939: Juden müssen Kennkarten bei sich führen. Sie dürfen nur noch jüdische Vornamen haben. Männer müssen den Zwangsvornamen „Israel“, Frauen den Zusatz „Sara“ tragen. Jüdische Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker, Zahntechniker, Krankenpfleger und Heilpraktiker erhalten Berufsverbot.

April 1939: Der Mieterschutz für Juden wird eingeschränkt. Juden werden aus „arischen“ Häusern ausgewiesen und in „Judenhäuser“ eingewiesen.

Juli 1939: Juden müssen sich in einer „Reichsvereinigung der Juden“ zusammenschließen.

September 1939: Ausgehbeschränkung für Juden. Juden dürfen sich nur noch zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Gebieten öffentlich bewegen. Juden dürfen im Sommer nach 21:00 Uhr und im Winter nach 20:00 Uhr ihre Wohnungen nicht mehr verlassen. Juden dürfen nur in besonderen Geschäften einkaufen. Juden müssen ihre Rundfunkgeräte bei der Polizei abliefern.

Oktober 1939: Die „Sühneleistung“ der Juden wird auf 1,25 Milliarden Reichsmark erhöht.

Februar 1940: Beginn erster Deportationen deutscher Juden.

Juli 1940: Juden dürfen keinen Fernsprechanschluss mehr besitzen.

Juni 1941: Juden dürfen sich nur noch als „glaubenlos“ bezeichnen.

Juli 1941: Beginn der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“.

September 1941: Alle Juden über 6 Jahre müssen einen gelben Stern als Kennzeichnen tragen. Sie dürfen ohne polizeiliche Genehmigung ihren Wohnbezirk nicht mehr verlassen. Juden dürfen keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen.

Oktober 1941: Beginn der allgemeinen Deportationen aus Deutschland.

Dezember 1941: Juden dürfen keine öffentlichen Fernsprecher mehr benutzen.

Januar 1942: Juden müssen alle Woll- und Pelzbekleidung abliefern.

Februar 1942: Juden dürfen keine Zeitungen und Zeitschriften mehr beziehen.

März 1942: Jüdische Wohnungen müssen durch eine „Judenstern“ neben dem Namenschild kenntlich gemacht werden.

Mai 1942: Juden ist das Halten von Haustieren verboten. Juden ist der Besuch von Friseurgeschäften verboten.

Juni 1942: Juden müssen alle entbehrlichen Kleidungsstücke abliefern. Juden müssen alle elektrischen und optischen Geräte sowie Schreibmaschinen und Fahrräder abliefern. Alle jüdischen Schulen werden geschlossen.

Juli 1942: Blinde und schwerhörige Juden dürfen keine Armbinden zur Kennzeichnung im Verkehr mehr tragen.

September 1942: Juden erhalten kein Fleisch, keine Eier und keine Milch mehr.

Oktober 1942: Alle Juden aus deutschen KZ‘s werden nach Auschwitz deportiert.

April 1943: Alle straffälligen Juden sind nach Verbüßung einer Strafe in die KZ‘s Auschwitz oder Lublin zu deportieren.

November 1944: Juden ist die Benutzung von Wärmeräumen verboten.

Mai 1945: Zusammenbruch des Deutschen Reiches und Ende des 2.Weltkrieges. Leitartikel Meinung

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  1. Ismail sagt:

    Nazi-Vergleiche können zum Bumerang werden. Beim Pogrom von Istanbul im September 1955 gehörten neben Christen auch Juden und Armeniern zu den Opfern.

  2. aloo masala sagt:

    Man kann auch ganz direkt darauf hinweisen, dass Erdogan einen rhetorischen Amok läuft, auf diese Weise die Naziverbrechen verharmlost und für seine irrsinnigen Rasereien Applaus in großen Teilen der deutsch-türkischen Community erhält.

    Ein anderer Teil der Community, zu dem ich auch Migazin zähle, hält sich vornehm mit Kritik an Erdogan zurück, ist ansonsten jedoch nicht zimperlich, wenn es um Verfehlungen der deutschen Politik und Gesellschaft geht.

    Wenn Deutsch-Türken tatsächlich meinen, sie tragen als Teil dieser Gesellschaft eine historische Mitverantwortung, dann sollte man sich zunächst einmal selbst kritisch überprüfen, wie ernst man es mit der historischen Verantwortung meint. Wie steht man zum Genozid an den Armeniern, wie steht man zu den Massakern gegen die Kurden, wie steht man zu den Rasereien von Erdogan?

    Die Fragen richten sich ausschließlich an all diejenigen Deutsch-Türken, die loyal zur Türkei sind (was ok ist), die gerne die deutsche Gesellschaft und Politik kritisieren (was auch ok ist) und gleichzeitig empflindlich reagieren, wenn umgekehrt Erdogan und die Türkei kritisiert werden (was bigott und verlogen ist).

  3. Feltus sagt:

    @aloo masala

    Der Grund warum viele Türken sich mit öffentlicher Kritik an Erdogan zurückhalten, liegt zum einen an der puren Angst vor Gewalt, Morddrohung und dem Vorwurf des Landesverrats vor/von ihren „eigenen“ Leuten und einem gewissen Minderwertigkeitskomplex der durch Herrn Erdogan ganz gezielt angesprochen wird um die gewünschten Resultate zu erzielen. Allein diesen Artikel zu schreiben muss Herrn Kayman schon eine gewisse Überwindung gekostet haben, denn wie er selbst schreibt, darf er hier sagen und schreiben was er will, aber wehe er besucht die Türkei nochmal…

    Ich habe jetzt zum wiederholten Mal die Erfahrung gemacht, dass Erdogananhänger sich gar nicht mehr darum scheren ihre Position zu erklären oder Beweise anzuführen, sondern den Gegner nur noch einzuschüchtern versuchen, ob das im Gespräch mit einzelnen Personen ist oder im Anbetracht der AKP-Politik in der Türkei.

  4. aloo masala sagt:

    @Feltus

    Das ist mir auch bewusst. Deswegen richtet sich mein Kommentar ausschließlich an diejenigen Deutsch-Türken, die

    – loyal zur Türkei sind
    – gerne die deutsche Gesellschaft und Politik kritisieren
    – empflindlich reagieren, wenn Erdogan & die Türkei kritisiert werden

    Mit anderen Worten, ich erwarte nicht, dass ein Deutsch-Türke Erodgan kritisiert. Wer allerdings hohe moralische Maßstäbe an die deutsche Politik, Gesellschaft und Medien anlegt aber geichzeitig deutsche Kritik an Erdogan nicht akzeptiert, der ist ein bigotter Typ.

    Damit beziehe ich mich weniger auf den Artikel von Murat Kayman, sondern auf andere Artikel und Leserkommentare bei Migazin.

  5. tabaeus sagt:

    @aloo masala
    @feltus

    Die von @aloo masala angesprochenen Türken sehen sich selbst, als eine Art Neokolonialisten und schaffen es so wunderbar ohne sich selbst als heuchlerisch oder bigott ansehen zu müssen, ihre Existenz hier und Ablehnung gegen Deutschland zu rechtfertigen. Diese Menschen sind mit absoluter Sicherheit nicht migrationsqualifiziert und komplett integrationsunfähig. Wenn Erdogan pfeifft dann springen sie und wenn Erdogan sagt 1+1=5, dann ist das auch so.
    Die Türkei steht für diese Menschen über alles, nur wirklich dahin wollen sie dann doch nicht, dafür haben die Deutschen es Ihnen hier zu gemütlich gemacht. Dankbarkeit wurde durch dreiste Überheblichkeit ersetzt und der whataboutismus artet bis ins extremste aus. Und wenn ihnen auffällt dass ihr benehmen ehrlos ist, dann wird es einfach weggelacht.

  6. aloo masala sagt:

    @tabaeus

    Integration bedeutet nicht, dass Deutsch-Türken eine politische Meinung haben, die kompatibel zur deutschen Mehrheitsmeinung ist. Und die von mir kritisierten Deutsch-Türken sind teilweise sehr gut in Deutschland integriert.

    Schätzungsweise die Hälfte der deutschen Gesellschaft ist ebenso bigott, was den Umgang mit Deutsch-Türken und Muslimen angeht. Deren Integration wird jedoch weniger in Frage gestellt. Alleine das ist schon bigott.

    Deutsch-Türken sollten die gleichen Rechte haben, mit einem krassen Widerspruch in der Kuppel durch die Welt zu laufen, wie beispielsweise Pegida-Anhänger oder Anhänger der AfD. Das Recht auf eine bigotte Meinung ist ein verbrieftes Recht und keine Almosen, die wir gönnerhaft verteilen. Deswegen hat das eine (Heuchelei) mit dem anderen (Integration) nichts zu tun.