Bade, Klaus J. Bade, Prof. Bade, Klaus Bade
Prof. Dr. Klaus J. Bade, Gründungsvorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) 2008-2012

Bades Meinung

Migration und die Angst davor. Erinnerungen. Von Klaus J. Bade – Teil II

Im April 2017 erscheint die autobiographische Beiträge-Sammlung von Klaus J. Bade: "Migration - Flucht - Integration: Kritische Politikbegleitung von der ‚Gastarbeiterfrage’ bis zur ‚Flüchtlingskrise’. Erinnerungen und Beiträge." MiGAZIN veröffentlicht vorab einen vom Verfasser leicht überarbeiteten Auszug in zwei Teilen.

Von Mittwoch, 15.03.2017, 4:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 15.11.2024, 8:41 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Teil I dieses Beitrags lesen Sie hier.

Die Migrationsforschung war in Deutschland in der Geschichtswissenschaft, aber auch in anderen Fachdisziplinen nach dem Zweiten Weltkrieg lange kaum mehr entwickelt, von wenigen Neuansätzen abgesehen. In der Geschichtswissenschaft hatte das vor allem vier Gründe: erstens die Disqualifizierung der „Wanderungsgeschichte“ als Teil der „Bevölkerungslehre“ im Nationalsozialismus; zweitens die Dominanz der noch lange stark historistisch geprägten Tradition der Politikgeschichte; drittens die Zurückhaltung gegenüber den für diese Forschungsrichtung unabdingbaren interdisziplinären Ansätzen; viertens die Skepsis gegenüber den dafür mitunter unverzichtbaren quantitativen Methoden. Das alles hat sich erst seit den 1980er Jahren zunehmend und seit den 1990er Jahren beschleunigt verändert.

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Neben meiner wissenschaftlichen Arbeit habe ich seit den frühen 1980er und verstärkt seit den 1990er Jahren versucht, im Bereich von Migrations- und Integrationspolitik mit Anregungen und Kritik gegenüber Politik, Verbänden und Stiftungen wirksam zu werden. Ich habe dies neben der direkten Beratung mit zwei von mir entwickelten Konzepten versucht, die ich „kritische Politikbegleitung“ und „doppelten Dialog“ nannte und die erfreulicherweise mancherlei Nachfolge gefunden haben

‚Kritische Politikbegleitung’ und ‚doppelter Dialog’

Bei der „kritischen Politikbegleitung“ über die Medien geht es um eine für Politik und weitere Öffentlichkeit erträgliche Verbindung zwischen wissenschaftlicher Fundierung und menschenfreundlicher Prosa. Sie soll die Öffentlichkeit informieren und zugleich Politik auf dem Weg über die Medien kritisch beleuchten und nötigenfalls unter Handlungsdruck setzen.

Info: Klaus J. Bade: Migration – Flucht – Integration. Kritische Politikbegleitung von der „Gastarbeiterfrage“ bis zur „Flüchtlingskrise“. Erinnerungen und Beiträge. Karlsruhe 2017 (Von Loeper Literaturverlag). 650 S., 32 EUR. (Subskriptionspreis bis 30.4.2017: € 25,-). Open Access ab 21.04.2017 unter www.imis.uni-osnabrück.de

Der Unterschied zur direkten Politikberatung liegt in dem für kritische Politikbegleitung nötigen Abstand zur Politik; denn Distanz zur Politik ist die Voraussetzung ihrer Kontrolle, wie der Verfassungsrechtler und frühere Verfassungsrichter Dieter Grimm in anderem Zusammenhang einmal gesagt hat. 1 In der Praxis gab und gibt es freilich mancherlei Überschneidungen, weil erfahrungsgemäß aus Politikbegleitung auch Politikberatung werden kann.

Beim „doppelten Dialog“ ging es um die seinerzeit noch mangelnde interdisziplinäre Kommunikation und Kooperation im Bereich der Wissenschaft sowie um den Austausch zwischen Wissenschaft und den verschiedensten Bereichen der Praxis, zu denen auch die Politik gehört. Zur Begründung muss ich etwas weiter ausholen:

Migration, Integration und interkulturelle Begegnung tangieren alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens und damit auch die Forschungsfelder der verschiedensten Humanwissenschaften. Es gab und gibt deshalb Bedarf auch an praxisorientiertem Erkenntnistransfer zwischen den verschiedensten Forschungsfeldern, an Evaluation und Bereitstellung von vorhandenen, aber ungenutzten wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Buchvorstellung am 21.4.2017

Dabei ging es lange mitunter schlicht um Verständigungs- und Vermittlungsprobleme zwischen verschiedenen Forschungsrichtungen sowie zwischen Wissenschaft und Praxis: Lange herrschte in Deutschland zwischen Politik („schmutziges Geschäft“) und Humanwissenschaften („Elfenbeinturm“) eine tiefe Sprachlosigkeit, in der der Dialog eher die Ausnahme war. Es gab Berührungsängste und Legitimationsprobleme auf Seiten der Wissenschaft, verordnetes Desinteresse auf politischer Seite. Es gab aber auch den kontraproduktiven Mummenschanz der Begegnung im Rollentausch von Wissenschaftlern, die sich als Praktiker und von Praktikern, die sich als Wissenschaftler gerierten – in dem bekannten appellativen Fusionsprozess, bei dem die einen schließlich immer weniger von den anderen zu lernen imstande sind, weil sich beide jeweils miteinander zu verwechseln tendieren.

Hinzu kamen triviale, aber folgenreiche Kommunikationsprobleme: Der in den verschiedensten Wissenschaftsbereichen verfügbare Erkenntnisstand konnte von „Handlungsträgern“, sofern sie überhaupt daran interessiert waren, zuweilen auch aus technischen Gründen nicht berücksichtigt werden: zum Beispiel weil die zum Teil verstreuten Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung nicht nur nicht zureichend angeboten wurden, sondern zum Teil sogar in der internationalen Wissenschaftspublizistik geradezu versteckt waren; weil gelegentlich unzureichend bedacht wurde, dass die Sprache der Wissenschaft und insbesondere die Spezialterminologie der jeweiligen Fachdisziplinen, Subdisziplinen und Forschungsrichtungen selbst im interdisziplinären Dialog und erst recht im Dialog zwischen Forschung und Praxis zu erheblichen Verständigungsproblemen führen kann; und schließlich, weil Forschungsergebnisse oft nur in originären Langfassungen existierten, nicht aber in übersichtlichen, verständlichen und im Rahmen des Möglichen handlungsorientierten Kurzfassungen für die Praxis.

Dass einerseits komplexe Probleme dabei nicht wissenschaftsfremd vereinfacht werden dürfen, andererseits aber Praxis und Politik schon im Entscheidungsprozess ohne ein Mindestmaß an Vereinfachung oder Formalisierung nicht auskommen, ist eine Binsenweisheit; deren Nichtbeachtung indes war und ist nicht selten mitverursachend für das gegenseitiges Missverstehen bzw. Nichtverstehen.

Ergebnis solcher Erfahrungen und Überlegungen war mein Bemühen um pragmatische Konzepte für jenen „doppelten Dialog“ in den Forschungs- und Gestaltungsbereichen von Migration, Integration und interkultureller Begegnung. Das galt 1. für den Dialog zwischen den verschiedenen, mitunter sogar ohne Kenntnis voneinander auf verwandten Feldern arbeitenden Wissenschaftsdisziplinen und Forschungsrichtungen sowie 2. für den Dialog zwischen ihnen und den verschiedensten Bereiche der Praxis, zu denen auch die Politik gehört.

Erkenntnischancen und Erkenntisverweigerung

Während sich die mediale Öffentlichkeit zunehmend für die Themen „Einwanderung“, „Einwanderungspolitik“ und „Einwanderungsgesetzgebung“, vereinzelt auch schon für den Begriff und das immer deutlicher erkennbare Phänomen der „Einwanderungsgesellschaft“ öffnete, blieben die ministerialen Türen dafür verschlossen. Sie öffneten sich bei Gesprächen eher nach außen hin, wenn jenseits von „Zuwanderung“, „Ausländerfragen“ und „Ausländerpolitik“ von „Einwanderung“ oder gar von „Einwanderungspolitik“ geredet werden sollte; denn der politische Angstbegriff „Einwanderung“ bezeichnete zum Beispiel in der „Ära“ des umstrittenen Bundesinnenministers Zimmermann (CSU) in den 1980er Jahren eine in behördlich verordneter demonstrativer Erkenntnisverweigerung amtlich verbotene semantische Zone. Selbst „der Begriff Migration war amtlich verpönt“, erinnerte sich auch der seinerzeitige Präsident des Nürnberger Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bafl) und späteren Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Albert Schmid. 2

Dementsprechend wurde in Beratungsgesprächen auf Referentenebene, zuweilen sogar mit einem gewissen Bedauern, gelegentlich mitgeteilt: „Wenn Sie hier über ‘Einwanderung’ reden wollen, darf ich das Gespräch nicht fortsetzen“ bzw. „muss ich den Ministerialrat holen“. In diesen Kontext gehörte später auch die Begegnung mit einem schon pensionierten, ehedem mächtigen Ministerialbeamten des Bundesministeriums des Innern 1997:

Auf einem Empfang nach der Vorstellung der Ergebnisse eines großen deutsch-amerikanischen Forschungsprojekts über Integration im transatlantischen Vergleich, dessen Steuerungsgruppe ich angehörte, stellte er sich mir mit den Worten vor: „Nett, Sie einmal persönlich kennen zu lernen. Ich habe Anfang der Achtzigerjahre alles verhindert, was Sie damals gefordert haben“, nämlich: Deutschland sei auf dem Weg zum Einwanderungsland. Nötig seien deshalb Konzepte für Einwanderungsgesetzgebung und Integrationspolitik. Das BMI sei gegenteiliger Auffassung gewesen: kein Weg zum Einwanderungsland, deshalb keine Konzepte, die diesen Irrweg nur befördern könnten.

Da sei er ja sehr erfolgreich gewesen, entgegnete ich, was der Beamte wohlwollend zur Kenntnis nahm. Als ich ihn aber fragte, wer denn nun, rückblickend betrachtet, Recht gehabt habe, das BMI oder wir, sagte der Beamte entrüstet: „Da hatten Sie wohl Recht – aber das konnten Sie damals doch gar nicht wissen!“ Man könnte das retrospektive Erkenntnisverweigerung nennen.

Die späte Karriere der Leitkategorie ‚Migration’ in Deutschland

Die mitunter auch gemeinsamen Anstrengungen von anfangs nur wenigen politisch, publizistisch und praktisch engagierten Wissenschaftlern haben wesentlich dazu beigetragen, das Begriffs- und Gestaltungsfeld „Migration“ in der öffentlichen und politischen Diskussion zu platzieren. An diesen „Balanceakt einer politiknahen Wissenschaft“ erinnerte im Frühjahr 1994 ein Pressebericht:

„Das Wort ‘Migrationsforschung’ wurde noch vor ein paar Jahren in mancher Zeitung aus Manuskripten gestrichen, weil der Leser damit angeblich nichts anfangen konnte. An der Universität wurden Forscher, die sich mit Wanderungsbewegungen und ethnischen Fragen befassten, als Exoten betrachtet. Diese Zeiten sind vorbei. Die Bedeutung der ‘Migrations- und Ethnizitätsforschung’ wird angesichts weltweiter Wanderungen und ausländerfeindlicher Gewalt anerkannt. Eine Konferenz folgt der anderen. Wissenschaftler werden bei aktuellen Anlässen nach ihrer Ansicht gefragt. Sogar Fördermittel für Untersuchungen fließen reichlich – noch, wie die Forscher betonen.“ Wissenschaftler könnten sich darüber nicht ungetrübt freuen, fügte der Tagessspiegel an und zitierte aus einem Interview mit mir: „Das parteiübergreifende Dementi, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, hat mehr als ein Jahrzehnt lang eine der brisantesten politischen Aufgaben tabuisiert und blockiert.“ 3

„Das Wort Migration wird jetzt gesellschaftsfähig“ titelte Anfang 2001 ein Pressebericht über eine öffentliche Diskussion zwischen dem Präsidenten Nürnberger Bundesamtes und mir. „Migration, ein Wort, das lange in Deutschland ignoriert wurde und auch im amtlichen Verkehr nicht auftauchte, wird gesellschaftsfähig: Es gibt eine Zuwanderungskommission, die ihre ersten Erkenntnisse bald vorliegen wird, und das Nürnberger Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge bereitet sich darauf vor, Zentrum eines Netzwerkes für Migration und Integration zu werden. ‘Wir brauchen jetzt eine Wie-Diskussion’, brachte es der Migrationsexperte Prof. Klaus J. Bade […] auf den Punkt. Für ihn ist der ‘Homo migrans’ im Kommen und einen Diskurs darüber, ob Migration in Deutschland gebraucht wird oder nicht, hält er für längst überholt.“ 4

Fortan gewann dieser seit den 1980er Jahren mühsam angeschobene Trend Eigendynamik. Die ehemals allumfassenden Begriffe „Ausländerpolitik“ und „Ausländerrecht“ wurden zunehmend ausdifferenziert und auf ihren tatsächlichen engeren Geltungsbereich eingegrenzt. Auch im rechtswissenschaftlichen, rechtspolitischen und rechtspraktischen Sprachgebrauch wurden sie zu Subkategorien der neuen Leitbegriffe „Migrationspolitik“ und „Migrationsrecht“. Die semantische Befreiungsschläge zeigten: Die späte Normalisierung im Umgang mit Migration und Migrationspolitik kam beschleunigt voran. In den öffentlichen und politischen Diskursen um Migrationsfragen aber ist die Gefahr von Ab- bzw. Rückstürzen in postrationale Dunkelzonen ein gefährliches Risiko geblieben.

Teil I dieses Beitrags lesen Sie hier.

  1. D. Grimm, Politikdistanz als Voraussetzung von Politikkontrolle, in: ders., Die Verfassung und die Politik. Einsprüche in Störfällen, München 2001, S. 183–190.
  2. A. Jungkunz, „Wir sind einen gewaltigen Schritt weiter“. Migrationsexperte Bade begrüßt den neuen Realismus: Einwanderung ist kein Tabu-Wort mehr. Das Nürnberger Asyl-Bundesamt erhält bald mehr Kompetenzen und einen neuen Namen, in: Nürnberger Nachrichten, 27./28.1.2001; vgl. K. J. Bade, Das Tabu der Einwanderungspolitik, in: Die Welt, 31.1.2001.
  3. C. Böhme / P. Stoop, Balanceakt einer politiknahen Wissenschaft. Die Migrationsforschung hat Konjunktur. „Beharren auf Unabhängigkeit“, in: Der Tagesspiegel, 22.4.1994.
  4. D. Wittmann, Das Wort Migration wird jetzt gesellschaftsfähig. Experten tagten zum heiklen Thema Zuwanderung, in: Nürnberger Zeitung, 27.1.2001.
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