Opa, Baby, Kind, Hand, Finger, Neugeborenes
Baby (Symbolfoto) © conorwithonen @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Sterbehilfe und Geburtsmedizin

Juden und Muslime in vielen bioethischen Fragen einig

Reproduktionsmedizin, Sterbehilfe, der Beginn des Lebens und lebensverlängernde Maßnahmen - bei einer Diskussion in Berlin wurden Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Muslimen deutlich.

Von Sophie Elmenthaler Montag, 27.02.2017, 4:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 02.03.2017, 20:45 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Knapp zwei Wochen ist es her, dass die deutschen Katholiken und Lutheraner nach acht Jahren Diskussion eine gemeinsame Stellungnahme zu bioethischen Fragen veröffentlicht haben. Vor allem zu Sterbehilfe und Geburtsmedizin haben die Christen unterschiedliche Ansichten. Islamische und jüdische Theologen sind sich dagegen in vielen Fragen einig, wie in einer Diskussionsveranstaltung am Donnerstagabend vergangener Woche im Jüdischen Museum Berlin deutlich wurde.

„Das Judentum ist sehr pro-natalistisch, also für Familien und Kinder“, sagte die Theologin und Ärztin Laurie Zoloth dem Evangelischen Pressedienst. Die Thora fordere von den Menschen, mindestens zwei Kinder zu bekommen. „Seid fruchtbar und mehret Euch“ sei als Verpflichtung zu verstehen, die insbesondere nach der Schoah sehr ernst genommen werde.

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Offen gegenüber Reproduktionsmedizin

Entsprechend groß sei die Offenheit gegenüber der modernen Reproduktionsmedizin. „Sogar die konservativsten Rabbiner werden Argumente für moderne Reproduktionstechnologie finden“, sagte Zoloth. Das sei aber nur deshalb möglich, weil das Leben nach jüdischer Auffassung erst mit der Geburt richtig beginne. So seien zum Beispiel Abtreibungen bis zum 40. Tag der Schwangerschaft erlaubt – also bis zu dem Zeitpunkt, von dem an der Embryo mit bloßem Auge als solcher zu erkennen sei. Ab dann habe er einen anderen Status, sei aber immer noch nicht so voll umfänglich Mensch wie zum Beispiel die Mutter.

Dem muslimischen Medizinethiker Ilhan Ilkılıç zufolge ist diese Auffassung bei islamischen Theologen ebenfalls verbreitet. „Man kann in der islamischen Argumentation sowohl die jüdischen Argumente als auch die katholischen Argumente finden“, sagte er. Entscheidend sei für die meisten Muslime der Zeitpunkt der Beseelung des Embryos, der je nach Interpretation am 40., 80. oder 120. Tag der Schwangerschaft angesetzt werde.

Stammzellenforschung möglich

Präimplantationsdiagnostik und Stammzellenforschung seien demnach vor diesem Zeitpunkt möglich. Gelehrte, die Lebensschutz ab dem Tag der Befruchtung forderten, gebe es allerdings auch. Was die In-vitro-Fertilisation angehe, gebe es seine Einschränkung: „Sowohl die Eizelle als auch die Samen sollen von rechtsgültig verheirateten Ehepartnern stammen, und die befruchtete Eizelle soll in die Gebärmutter der Ehefrau implantiert werden“, erklärte Ilkılıç, der Mitglied im deutschen Ethikrat ist. Bei den Schiiten seien in Ausnahmefällen auch Keimzellenspenden Dritter möglich.

Bedenken gibt es von jüdischer wie islamischer Seite vor allem gegenüber Technologien, die eugenisch eingesetzt werden könnten. Dazu gehört die Crispr-Cas9-Methode, die erlaubt, einzelne Erbgutstränge auszutauschen und damit genetische Defekte zu beseitigen. Laurie Zoloth nannte für die Bedenken nicht nur theologische, sondern auch historische Gründe: „Wir leben in einer ungerechten Welt, die sehr wenig für Menschen übrighat, die anders sind.“ Gerade für Juden, die überall in Europa fast eliminiert wurden, sei die Frage der Rechtmäßigkeit eugenischer Maßnahmen fundamental.

Keine Sterbehilfe

Auch bei der Sterbehilfe wurden in dem Gespräch im Rahmen des jüdisch-islamischen Forums der W. Michael Blumenthal-Akademie Gemeinsamkeiten deutlich. Weil der Körper als Geschenk oder Leihgabe Gottes gelte, sei es aus beiden Perspektiven nicht zulässig, ihn selbst zu töten oder zu seiner Tötung beizutragen. Dschihadistische Selbstmordattentäter würden folglich nach klassischer islamischer Auffassung als Gotteslästerer gelten.

Was die Bewertung des Todes und damit den Wert lebensverlängernder Maßnahmen anbelangt, stellen islamische und jüdische Zugänge sich hingegen sehr verschieden dar. Im Judentum gibt es keine individuelle Auferstehung. Hier seien Islam und Christentum einander näher, erklärte Laurie Zoloth: „Ich hatte in der Klinik mit Eltern zu tun, die nach dem Tod ihres Kindes sagten, es sei jetzt bei Jesus oder an einem besseren Ort.“ Damit könnten Juden wenig anfangen. (epd/mig) Feuilleton Leitartikel

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  1. karakal sagt:

    Nachdem ich mir einige Videos der Reihe „Thora in Frankfurt“ mit dem Rabbiner Shlomo Raskin angesehen hatte, war ich erstaunt, wie viel – nicht nur auf dem Gebiet Reproduktionsmedizin, Sterbhilfe usw., sondern allgemein – Islam und Judentum gemeinsam haben. Einer der Gründe, warum sich hier das Christentum unterscheidet, mag darin liegen, daß Islam und Judentum an den Vorschriften ihrer Religionen festhalten, während diese im Christentum durch den Apostel Paulus weitgehend aufgegeben und abgeschafft worden sind. Somit beruht das heutige Christentum großenteils auf dem, was Paulus lehrte, und nicht dem, was Jesus lehrte, der von sich sagte, er sei „nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen.“
    Tatsächlich ist es so, daß Selbstmord im Islam eine der größten Sünden und sogar einen Abfall vom Glauben darstellt, weswegen ein Selbstmörder kein islamisches Begräbnis erhalten soll. In einer außerkoranischen Überlieferung, wonach ein Selbstmörder in der Hölle seinen begangenen Selbstmord mit allen damit verbundenen physischen und psychischen Qualen fortwährend bis in alle Ewigkeit wiederholen wird, ist kein Motiv für den Selbstmord genannt, was bedeutet, daß grundsätzlich auch ein vorgeblicher Märtyrertod durch Selbstmordanschlag darunter fällt. Aus der Frühzeit des Islams sind keine solchen, sondern nur lebensgefährliche militärische Aktionen („Himmelfahrtskommandos“) bekannt, die jedoch die Möglichkeit offen lassen, mit dem Leben davonzukommen. Erst später wurden von Mitgliedern der Geheimsekte der Assassinen Attenate verübt, wobei die Täter meist hochgestellte Persönlichkeiten ermordeten und eingeplant war, daß sie nicht entkommen, sondern entweder von der Wache sofort getötet oder später zum Tode verurteilt und hingerichtet würden.
    Versucht man Anhängern des vorgeblich „Islamischen Staates“ zu erklären, daß Selbstmord im Islam verboten ist, dann betrachten sie einen als Dummkopf, obwohl sie selbst die Unwissenden sind. Wie es heißt, bedrohen die Taliban Gelehrte, die Selbstmordattentate als unislamisch verurteilen, mit dem Tode oder ermorden sie sogar.

  2. Maria sagt:

    @karakal
    Meine atheistisch/agnostische (vllt sogar christliche) Sicht zum Selbstmord:

    Ein Menschen der Selbstmord begeht ist krank. Er hat kein Husten oder Bauchschmerzen, sondern ist psychisch krank. Er hat ein sehr ernsten Denkfehler. Meistens sind das vorübergehende Depressionen die sich durch äußere Umstände hochschaukeln und der Betroffene des Lebens müde wird und das Gefühl hat keine Kraft mehr zu haben sich davon befreien zu können außer eben mit seinem eigenen Tod. Jemanden, weil er krank und/oder schwach war noch obendrein mit der Hölle zu bestrafen ist komplett unangebracht und falls das so tatsächlich im Islam so ist wie von Ihnen dargestellt, dann sollte man doch bitte ein bisschen kreativ werden im Uminterpretieren dieser Verse oder mal kräftig darüber nachdenken ob Gott nicht vllt zu intelligent war, als dass Menschen diese Zeilen richtig verstehen könnte. ;)

    Bei Selbstmordattentäter kann ich mir schon vorstellen, dass sie in die Hölle kommen würden (wenn ich denn dran glauben würde), da sie ihre Tat wissend und mit voller Absicht begangen haben und obendrein auch schon gesehen haben, was ihre Vorgänger damit angerichtet haben. Ein Märtyrer tötet sich m.M. nach nicht selbst, das machen nur Feiglinge, die sich der Schwere ihres Fehlers bewusst sind und sich nicht dafür rechtfertigen wollen.