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Eine traurige Frau (Symbolfoto) © ukg.photographer @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Psychosoziales Zentrum für Geflüchtete

Karin Loos: „Ich könnte mich jede Woche mehrmals in Grund und Boden schämen für Europa“

Karin Loos weiß aus langjähriger Erfahrung, die psychische Versorgung von Flüchtlingen ist das größte Problem. Seit 2007 leitet sie ein psychosoziales Zentrum, das im ganzen Bundesland die Behandlung traumatisierter Geflüchteter koordiniert. Im Gespräch erklärt Loos die Herausforderungen ihrer Arbeit.

Von Mittwoch, 14.12.2016, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 18.12.2016, 11:32 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Armin Wühle: Warum haben Sie sich entschieden, in diesem Feld zu arbeiten?

Karin Loos: Ich war beim Flüchtlingsrat Niedersachsen angestellt und wir haben ein Projekt durchgeführt, in dem wir die Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge untersucht haben. Da war relativ schnell klar, dass das größte Problem die psychische Versorgung ist. Mit Unterstützung von Gruppen wie Amnesty, der Ärztekammer und der Psychotherapeutenkammer haben wir dann das Netzwerk gegründet, im Jahr 2007 den Verein Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen (NTFN). Wir gehen also bald in unser zehntes Vereinsjahr.

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Wohlfahrtsverbände wie die Caritas bemängeln seit Jahren einen ungenügenden Zugang zum Gesundheitssystem, insbesondere für Geflüchtete. Teilen Sie diese Erfahrung?

Karin Loos: Ja! Auf jeden Fall. Für Geflüchtete ist die Unzugänglichkeit gesetzlich festgeschrieben, indem man ihnen den Zugang zur regulären Krankenversicherung verwehrt, zumindest in den ersten fünfzehn Monaten. Dazu kommt eine zweite Hürde: wer ist überhaupt erwünscht in der Praxis?

Erhöhen prekäre Lebensumstände die Anfälligkeit für Traumata?

Karin Loos: Zumindest ist es schwerer, mit traumatischen Erfahrungen klarzukommen. Nicht jeder, der eine traumatische Erfahrung gemacht hat, hat sofort eine Trauma-Folgestörung. Die Umstände, in denen man lebt, spielen dafür eine große Rolle. Um gut mit dem Trauma zu leben, sind soziale Ressourcen wie Familie und Freunde wichtig, aber auch ökonomische Ressourcen, mit denen man bestimmte Möglichkeiten hat, wie Freizeitaktivitäten, finanzielle Sicherheit. Je weniger Zugang man zu solchen Ressourcen hat, desto schwieriger ist die Verarbeitung.

Die Umstände machen uns also dünnhäutiger?

Karin Loos: Je verletzlicher man lebt, desto größer ist die Gefahr verletzt zu werden. Auch Gewalterfahrungen tragen entscheidend zu Traumata bei. Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, machen überproportional häufig Gewalterfahrungen im Alltag.

Die Lebensumstände Ihrer Patienten ändern sich je nach Tagespolitik. Spüren Sie die Entscheidungen auch in Ihrer Praxis?

Karin Loos: Ja, absolut. Diese unsäglichen Beschlüsse zum Familiennachzug haben sich unmittelbar ausgewirkt. Jetzt machen sich ganze Familien auf den Weg, weil sie nicht mehr wissen, ob das mit dem Nachzug klappt, und die Ehemänner sitzen hilflos bei mir. Auch die Diskussion über sichere Herkunftsländer hat viel Unsicherheit geschaffen, z.B. bei afghanischen Geflüchteten. Für die Überwindung von traumatischen Erfahrungen ist zuallererst wichtig: Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit. Und das zweite dann nochmal: Sicherheit. Nicht hilflos sein, sondern Kontrolle wiedergewinnen können.

Sie haben kürzlich Ihre Praxisräume erweitert und beziehen jetzt zwei Stockwerke in Ihrer Geschäftsstelle. Wird der Zustrom an Geflüchteten, die eine Therapie suchen, größer?

Karin Loos: Ja, auf jeden Fall. Die Anzahl der Hilfesuchenden ist bislang jedes Jahr gewachsen. 2015 haben wir über 600 Menschen betreut, etwa drei Viertel davon waren Neuzugänge. In diesem Jahr sieht es nicht anders aus: schon im ersten Halbjahr haben wir fast so viele Flüchtlinge betreut wie im gesamten Vorjahr. Die Zahl steigt also. Es steigt aber auch die Bereitschaft des Landes Niedersachsen, die nötigen Mittel zu Verfügung zu stellen. Selbst andere Parteien als Rot-Grün stellen das gar nicht mehr in Frage, dass es ein psychosoziales Angebot braucht. Wir sind dabei, unser Angebot noch auszubauen, auch an dezentralen Stellen, in ländlichen Gebieten. Aber es liegt noch einiges an Weg vor uns.

Können Sie nach der Arbeit „abschalten“ oder begleitet Sie das Schicksal ihrer Patienten?

Karin Loos: Das kommt auf das Fernsehprogramm an (lacht). Aber ja, was so scherzhaft klingt ist natürlich Verdrängung. Man lernt, damit umzugehen, aber ich könnte mich jede Woche mehrmals in Grund und Boden schämen für Europa. Wir haben hier Menschen sitzen, wo Frau und Kinder ertrunken sind, oder eine Patientin, der das Kind entglitten ist im Boot. Gerade diese Schicksale berühren mich, weil ich denke, das sind Opfer unserer europäischen Politik und da fühle ich mich mitverantwortlich. Aktuell Interview

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