Bades Meinung
Fluchtschicksale damals und heute
In der Konfrontation mit der sogenannten "Flüchtlingskrise" wird oft an die Erfahrung der Ankunft von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Naheliegender ist die Erinnerung an die Flucht der Entrechteten und Verfolgten aus dem nationalsozialistischen Terrorregime.
Von Prof. Dr. Klaus J. Bade Mittwoch, 30.03.2016, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 30.03.2016, 22:44 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Die neuerdings meist als „illegale Migration“ denunzierte Flucht aus nordafrikanischen Kriegs- und Krisengebieten auf der Süd-Nord-Route wird bald wieder verstärkt von Libyen über das Mittelmeer nach Italien führen.
Davon zeugt die Tatsache, dass zum Beispiel von dem von „SOS MEDITERRANEE – Europäische Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger im Mittelmeer e. V.“ gecharterten, derzeit größten zivilen Rettungsschiff im Mittelmeer bei seinen ersten drei Einsätzen in den letzten Wochen auf hoher See vor den libyschen Küstengewässern fast 600 und von der italienischen Küstenwache allein am Osterwochenende im Kanal von Sizilien fast 1.500 Menschen aus Seenot gerettet werden mussten.
Vor dem EU-Türkei-Flüchtlingsdeal über die Abwehr und „Rückschiebung“ von „illegalen Migranten“ kamen die meisten Flüchtenden zuletzt über die Türkei auf die vorgelagerten griechischen Ägäis-Inseln, von dort auf das griechische Festland und über die jetzt ebenfalls blockierte Balkanroute weiter nach Zentraleuropa und 2015 besonders nach Deutschland.
In der Konfrontation mit der Flucht aus vorwiegend arabischen und nordafrikanischen Krisenzonen nach Europa und mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ insgesamt wird oft nach historisch vergleichbaren Erfahrungen gefragt und dabei auf die Ankunft von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg verwiesen. Der Vergleich ist schon im Blick auf den deutsch-deutschen Charakter dieser größten Massenzwangswanderung der europäischen Geschichte nur bedingt tragfähig, von den immer vergleichbaren Einzelschicksalen abgesehen.
Näher liegt ein Vergleich mit den Erfahrungen deutscher Emigranten auf der Flucht vor der Verfolgung durch das nationalsozialistische Terrorregime. Hier als Beispiel ein Auszug aus den romanhaft ergänzten Erinnerungen des zur Zeit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 schon in der Schweiz lebenden, vom NS-Regime geächteten und 1938 ausgebürgerten deutschen Schriftstellers Erich Maria Remarque (1898-1970) an seine Emigration in die Vereinigten Staaten 1939.
Die folgenden Zitate stammen aus dem von Remarque unter dem Arbeitstitel „Das gelobte Land“ hinterlassenen Romanmanuskript, das ein Jahr nach seinem Tod in vom Verlag bearbeiteter Fassung unter dem Titel „Schatten im Paradies“ erschien. Hätte der aktuelle Sprachgebrauch der europäischen Sicherheitsbehörden damals schon gegolten, dann wäre der Emigrant Remarque an den Grenzen als „illegaler Migrant“ abgewiesen oder abgeschoben bzw. „rückgeführt“ worden:
Zitate aus: Erich Maria Remarque, Schatten im Paradies, München 1971, S. 5-8 (posthum vom Verlag bearbeitete Fassung des mit dem Arbeitstitel „Das gelobte Land“ hinterlassenen letzten Romans des 1970 verstorbenen Autors).
„Das Ende des letzten Krieges erlebte ich in New York. Die Gegend um die 57. Straße war mir, dem Heimatlosen, der die Sprache dieses Landes nur sehr mangelhaft beherrschte, fast zu einer neuen Heimat geworden.
Hinter mir lag ein langer, gefährlicher Weg, die Via dolorosa all derer, die vor dem Hitler-Regime hatten fliehen müssen. Die Straße der Leiden lief von Holland, Belgien und Nordfrankreich nach Paris. Dort teilte sie sich. Der eine Weg führte über Lyon an die Küste des Mittelmeeres, der andere über Bordeaux und die Pyrenäen nach Spanien, Portugal und zum Hafen von Lissabon.
Ich war diese Straße entlang gezogen wie so viele, die der Gestapo entkommen waren. Doch auch in den Ländern, durch die unsere Fluchtwege führten, waren wir noch nicht in Sicherheit, denn nur die wenigsten von uns hatten gültige Ausweise oder Visa. Wenn die Gendarmen uns erwischten, wurden wir eingesperrt, zu Gefängnis verurteilt und ausgewiesen. Einige der Länder waren allerdings menschlich genug, uns wenigstens nicht über die deutsche Grenze abzuschieben; dort wären wir in den Konzentrationslagern umgekommen.
Da nur wenige Flüchtlinge gültige Pässe hatten mitnehmen können, waren wir deshalb fast pausenlos auf der Flucht. Wir konnten ohne Papiere auch nirgendwo legal arbeiten. Die meisten von uns waren hungrig, elend und einsam; deshalb nannten wir die Straße unserer Wanderungen auch die Via dolorosa. (…).
Ich war vor einigen Monaten mit einem Frachtdampfer aus Lissabon in Amerika angekommen und konnte nur wenig Englisch – das war, als hätte man mich halb stumm und halb taub und von einem anderen Planeten hier ausgesetzt. Es war auch ein anderer Planet, denn in Europa war Krieg.
Dazu kam, dass meine Papiere nicht in Ordnung waren. Ich hatte zwar dank vieler Wunder ein gültiges amerikanisches Visum, mit dem ich eingereist war; aber mein Pass lautete auf einen anderen als meinen Namen. Die Immigrationsbehörden waren misstrauisch geworden und hatten mich in Ellis Island festgesetzt. Nach sechs Wochen hatten sie mir dann eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate gegeben. In dieser Zeit sollte ich mir eine Einreisegenehmigung in ein anderes Land besorgen. Ich kannte das von Europa her. Ich hatte dort seit Jahren so existiert – nicht von einem Monat, sondern von einem Tag zum andern. Als deutscher Emigrant war ich ohnehin seit 1933 offiziell tot. Jetzt für drei Monate nicht mehr fliehen zu müssen, war bereits ein unfassbarer Traum.
Es schien mir auch schon lange nicht mehr merkwürdig, einen anderen Namen zu haben und mit dem Pass eines Toten zu leben – im Gegenteil, eher passend. Ich hatte den Pass in Frankfurt geerbt; der Mann der ihn mir genau an dem Tag schenkte, an dem er starb, nannte sich Ross. Ich hieß also ebenfalls Robert Ross. Meinen wirklichen Namen hatte ich fast vergessen. Man kann viel vergessen, wenn es ums nackte Leben geht.“
Ein gravierender Unterschied zu den Fluchtbewegungen damals ist bei den Flüchtenden heute die stete Orientierung mithilfe der digitalen Kommunikation. Zur Zeit der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland sah das ganz anders aus. Hierzu noch einmal der Romanbericht von Erich Maria Remarque:
„Unsere Stationen waren die Postämter in den kleinen Städten und die weißen Mauern an den Straßen. Auf den Postämtern versuchten wir postlagernde Nachrichten von Angehörigen und Freunden zu finden; die Mauern und Häuser an den Chausseen wurden unsere Zeitungen. In Kreide und Kohle fand man dort die Aufzeichnungen der Verlorenen, die sich gegenseitig suchten, Adressen, Warnungen, Hinweise, Schreie ins Leere, in einer Periode allgemeiner Gleichgültigkeit, der bald die Epoche der Unmenschlichkeit folgen sollte: der Krieg, in dem Gestapo und Miliz und oft auch die Gendarmen gemeinsame Sache machten in ihrer Jagd auf uns Unglückliche.“
Vieles ist unvergleichbar bei den Fluchtbewegungen aus und nach Deutschland in Geschichte und Gegenwart, bis hin zum verfassungsrechtlich garantierten, wenn auch bis zur Unkenntlichkeit verschrumpften Anspruch von politisch Verfolgten auf Asyl in Deutschland. Vergleichbar sind in jedem Falle das Leid der Flüchtenden, die Gleichgültigkeit von Zeitgenossen, die deren Schicksal nicht teilten, die wütende Ablehnung, aber auch die Hilfsbereitschaft gegenüber schutzsuchenden Flüchtlingen.
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