Differenzierung oder Barbarei

Der Anfang einer unberechenbaren Entwicklung

Im Jahr 2014 wurden täglich 16.500 Straftaten begangen. Journalisten brauchen sich also nur aussuchen, welche Geschichte sie veröffentlichen wollen. Wie es der Zufall will, wählen sie immer häufiger Horrorgeschichten über Flüchtlinge? Von Houssam Hamade

Von Freitag, 19.02.2016, 8:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 21.02.2016, 18:05 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Wir stehen derzeit wohl am Anfang einer unberechenbaren Entwicklung. In den deutschen Zeitungen lässt sich derzeit eine gefährlich Polarisierung beobachten: Selbst rechts-konservative Zeitungen mit Qualitätsanspruch wie die Cicero oder die Welt vertreten ihre flüchtlings- und islamkritischen Positionen immer vehementer. Insbesondere nach den Ereignissen von Köln scheint vor allem die Welt jedes Augenmaß verloren zu haben. Ganze Artikelserien werden veröffentlicht, die den Zuzug von Flüchtlingen und Muslimen problematisieren. In Boulevardmanier wird von erschreckenden Ereignissen berichtet. „Mädchen stundenlang von vier Tätern vergewaltigt“ (selbstverständlich muslimische Täter), „Flüchtling tritt Frau ins Gesicht“, „Muslimische Security verprügelt Christen“ oder auch „Muslime werfen Christen von Flüchtlingsboot“ im Focus.

Ausgebildete Journalisten müssten wissen, dass sich schlimme Geschichten in großen Populationen ständig und jederzeit finden lassen. Im Jahr 2014 wurden täglich 16.500 Straftaten begangen. Man braucht sich also nur noch aussuchen, welche Geschichte veröffentlicht werden soll. Warum wählt man aber immer häufiger Horrorgeschichten über Flüchtlinge? Wohl um etwas zu betonen, von dem man glaubt, dass es derzeit nicht genügend betont wird.

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Linke Zeitungen halten diametral dagegen, veröffentlichen Geschichten von freundlichen und hilfreichen Flüchtlingen und Muslimen, und pochen auf Statistiken, die belegen sollen, dass Flüchtlinge nicht krimineller sind als Deutsche. Würde die Diskussion differenziert geführt, dürften die meisten Linken kein Problem mit einer Debatte um Ausländerkriminalität und Ähnliches haben.

Allerdings bedeuten differenzierte Debatten, dass große, emotionalisierende Aussagen nicht funktionieren. Man wird kleinteiliger und langweiliger. Geht man wissenschaftlich vor, müssen Faktoren, Zusammenhänge und Statistiken gewälzt und miteinander verglichen werden. Anders als derzeit oft behauptet, gibt es beispielsweise ausführliche Zahlen zur „Ausländerkriminalität“. Hier zeigt sich, dass es durchschnittlich ein wenig mehr Migranten gibt, die Gewalttäter sind, in anderen Bereichen der Kriminalstatistik schneiden Migranten aber wieder besser ab als Deutsche. Grundsätzlich gilt: „Ausländerkriminalität“ ist eher ein Problem junger Männer mit schlechten Zukunftsaussichten. Eine „muslimische Kultur“ mag als Faktor in den das Wirkungsgeflecht, das das Leben ist, mit hinein spielen, aber die derzeit leider wie wild grassierende Vorstellung „einer“ homogenen Kultur, der Menschen aus einem Land oder von einer Religion oder einer riesigen Region angehören, erzeugt krasse Fehlwahrnehmungen. Es ist sachlich und moralisch falsch, die ungeheuer heterogene Gruppe der Muslime oder der „Menschen mit Migrationshintergrund“ für das Fehlverhalten von Leuten innerhalb der jeweiligen Gruppe verantwortlich zu machen. Sonst könnte man auch fragen, warum Deutsche die Kriminalitätsstatistik in Österreich anführen.

Manche Befürchtungen, mit den Flüchtlingen könnten auch Menschen mit schlechten Einstellungen ins Land kommen, sind nicht an den Haaren herbeigezogen. Auch die Sorge, dass Terroristen sich über die Fluchtrouten mit einschleichen, ist berechtigt. An solchen Stellen müssen auch linke Autoren differenzieren und den rechten sachlich entgegenkommen. In gemäßigteren Tönen hört man diese Argumente auch in guten linken Artikeln. Der linke Denker Slavoj Žižek meint auch, dass universalistische Werte verteidigt werden müssten, und dass den Flüchtlingen zwar unbedingt geholfen werden, der Flüchtlingszustrom aber kontrolliert werden muss. Die Zeit brachte neulich einige recht kluges und differenzierte Beiträge, die wegweisend sind. Auch im Spiegel erkläre Margarete Stokowski: „Natürlich müssen wir über Geschlechterordnungen in arabischen und nordafrikanischen Ländern sprechen – aber das reicht eben nicht.“ Wenn das Problem nämlich in der besagten Entgegensetzung des aufgeklärten Westen versus des barbarischen Restes verläuft, wie es eben getan wird, dann werden ganze Wagenladungen Öl ins Feuer der auch im Westen sehr wohl existierenden Barbarei gekippt. Dabei lässt sich sehr wohl differenzieren: In Ägypten führten die Übergriffe am Tahrir-Square zu einem öffentlichen Aufschrei, auch getragen von Muslimen. Es gibt in den meisten islamischen Ländern auch bedeutende fortschrittliche Strömungen, die für Frauenemanzipation eintreten und gegen reaktionäre Werte. In der Türkei finden wir die mächtige Taksim-Bewegung, die gegen den Kurs der Erdogan-Regierung kämpft.

In Deutschland wird dieser Kampf wohl schon länger ausgefochten. Wir sind geprägt durch die zivilisierende Wirkung der 68-er Revolte (die es auch in Ländern außerhalb des Westens gab). Dennoch werden deutsche Foren derzeit überschwemmt von Kommentaren, die einen völlig undifferenzierten Gegensatz aufmachen, angestachelt durch einseitige und emotionalisierende Artikel von „Qualitätszeitungen“.

Die eigentliche Konfliktlinie verläuft nicht zwischen Christen und Muslimen, Ausländern oder Deutschen, sondern zwischen denen, die die Werte der Menschlichkeit verteidigen, und denen, die es nicht tun. Die Rede von den „westlichen Werten“ ist dabei nicht so ohne weiteres haltbar. Etwa ein Viertel aller Deutschen hängen rechtsextremen Einstellungen an. Die können ja nun schlecht als „aufgeklärt“ bezeichnet werden. Erst 1997 wurde das Gesetz abgeschafft, das Vergewaltigung in der Ehe legalisiert, erst 1996 wurde der „Schwulenparagraf“ 175 restlos gestrichen. Universalistische Werte zu verteidigen bedeutet eben auch Menschen nicht auf der Grundlage von „Rasse“, „Kultur“, Religion oder Geschlecht in Sippenhaft zu nehmen und zu dämonisieren. Wer nicht differenziert, nährt die Barbarei.

Wer Menschen die Hilfe verweigert, weil damit eine Gefahr verbunden sein könnte, der handelt feige und kurzsichtig. Wir können stattdessen neue Maßstäbe setzen und Menschen in größter Not zur Hilfe eilen. Das kann darf nicht kopflos, sondern auf kluge Weise geschehen. Einen Vorschlag dafür machte unter anderem Slavoj Zizek. Aktuell Meinung

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